Erbgut-Analyse als gigantisches Bioinformatik-Puzzle

ForscherInnen enträtseln Anammox-Bakterium

Sechs Jahre lang suchte ein internationales Forscherteam auf Initiative von Michael Wagner vom Department für Mikrobielle Ökologie mit der Entschlüsselung des Genoms des Anammox-Bakteriums die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen: Der Einzeller ist erst seit wenigen Jahren bekannt und kann im Labor nicht gezüchtet werden. Die WissenschafterInnen mussten sein Erbgut daher aus einer Probe, die auch eine Vielzahl anderer Bakterien enthielt, "herauspuzzeln" und aus mehr als 500 Millionen Nukleotiden die richtigen vier Millionen zuordnen. Dabei stießen sie auch auf überraschende Erkenntnisse in der Evolutionsgeschichte des Bakteriums, wie „Nature“ in seiner Ausgabe vom 6. April berichtet.

Anammox-Bakterien besitzen die einzigartige Fähigkeit, Ammonium in Abwesenheit von Sauerstoff in Luftstickstoff umzuwandeln. Bereits 1977 postulierte der Wiener Physikochemiker Engelbert Broda aufgrund theoretischer Überlegungen die Existenz der damals noch unentdeckten Bakterien. Unter Mikrobiologen war diese Hypothese jedoch lange Zeit heftig umstritten, und es dauerte bis 1999, als es holländischen Forschern um Prof. Mike Jetten von der Radboud University in Nijmegen gelang, einen Mikroorganismus zu identifizieren, der tatsächlich mit Hilfe dieser vormals bei keinem anderen Lebewesen beobachteten Stoffwechselleistung leben konnte. Kurz darauf konnte ein Team um Univ.-Prof. Dr. Michael Wagner mit Hilfe molekularer Methoden erstmals ein Anammox-Bakterium in einer Kläranlage direkt nachweisen und benannte es Kuenenia stuttgartiensis.

Nutzen für Abwasserreinigung

Heute weiß man, dass die rätselhaften Anammox-Bakterien in großer Zahl im Meer vorkommen und über die Hälfte des Stickstoffs in der Atmosphäre produzieren. Aber nicht nur für das Ökosystem Erde haben die Bakterien globale Bedeutung, sondern auch in der Abwasserreinigung könnte der Einzeller von Nutzen sein: Anammox kann in speziellen Reaktoren zur Stickstoffentfernung innerhalb einer Kläranlage eingesetzt werden. Dies sei allerdings ein Zukunftsszenario, so Wagner, denn das Verfahren werde derzeit lediglich in einem Reaktor in den Niederlanden angewandt.

Spezialist für "schwierige Fälle"

"Als ich 2000 vorschlug, das Genom von Kuenenia stuttgartiensis zu entschlüsseln, um Anammox-Bakterien besser verstehen zu lernen, stieß ich bei vielen KollegInnen und auch bei Geldgebern auf große Skepsis. Man dachte damals, dass es nahezu unmöglich sein würde, ein Bakteriengenom aus einer Probe, die eine Vielzahl verschiedener Bakterien enthält, zusammenzusetzen", berichtet der Mikrobiologe. Wagner gewann neben der Forschungsgruppe von Mike Jetten in Holland auch Jean Weissenbach, den Leiter des französischen Sequenzierzentrums Genoscope und die Münchner Bioinformatikgruppe um Werner Mewes für das Projekt. Das Anammox-Genom-Projekt wurde schließlich von einem aus 37 WissenschafterInnen bestehenden europäischen Konsortium bestritten, wobei die beteiligten ForscherInnen des Departments für Mikrobielle Ökologie durch ein assoziiertes GEN-AU Projekt seitens des Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst finanziell unterstützt wurden.

Vier Millionen aus 500 Millionen Nukleotiden

Mit der Bestimmung und dem Zusammensetzen von mehr als 98,5 Prozent der Nukleotide des Genoms von Kuenenia stuttgartiensis konnte nun, nach sechs Jahren, die Untersuchung mit Hilfe der Bioinformatik zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Dafür mussten mehr als 500 Millionen Nukleotide identifiziert werden, von denen schließlich vier Millionen dem Anammox-Bakterium zugeordnet werden konnten. Zum Vergleich: Das menschliche Erbgut, das im bekannten "Human-Genome-Projekt" entschlüsselt wurde, besteht aus rund drei Milliarden Nukleotiden. "Zu Beginn des Projekts war nur ein Stück eines einzigen Gens des Anammox-Bakteriums bekannt. Die französischen Kollegen von Genoscope haben eine großartige Leistung vollbracht, um aus den Millionen von Nukleotiden aus der komplexen Biomasse die richtigen herauszusortieren", sagt Wagner.

Ungewöhnliche Eigenschaften

Zur Überraschung der ForscherInnen ist das Anammox-Genom wesentlich größer als ursprünglich angenommen. Aber warum hat Anammox so viele Gene? "Anammox ist ein erstaunlich komplexes Bakterium, das physiologisch wesentlich vielseitiger ist, als wir je vermutet hätten", weiß Prof. Jetten, "die Anammox-Bakterien können eine Vielzahl unterschiedlicher Verbindungen als Energiequelle nützen und sind sogar in der Lage, Metalle wie Mangan oder Eisen zu reduzieren, die insbesondere in den marinen Anammox-Habitaten häufig sind". Die WissenschafterInnen der Universität Wien belegten anhand der Genomsequenz, dass die Anammox-Bakterien relativ nahe mit den Chlamydien verwandt sind, die zu den am weitesten verbreiteten Krankheitserregern beim Menschen gehören. Eine der spannenden Fragen für die zukünftige Forschung, so Wagner, sei es herauszufinden, durch welche Evolutionsschritte es den Anammox-Bakterien bzw. den Chlamydien gelungen ist, ausgehend von einem gemeinsamen Vorfahren, solch unterschiedliche Ökosysteme wie die Weltmeere bzw. den Menschen zu besiedeln.

Kontakt:

Univ.-Prof. Dr. Michael Wagner

Department für Mikrobielle Ökologie der Universität Wien

Althanstr. 14, 1090 Wien

Tel. +43-1-4277-543 90

E-Mail: wagner(at)microbial-ecology.net

www.microbial-ecology.net

Rückfragehinweis:

Alexandra Frey

Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsmanagement

Universität Wien

1010 Wien, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1

Tel: +43-1-4277-175 31

E-Mail: alexandra.frey(at)univie.ac.at

"Nature" 6. April 2006, Volume 440, Number 7085 pp 790-794

Das Copyright für die Fotos liegt bei der Universität Wien.

Bildtext 1: Michael Wagner, Mikrobiologe

Bildtext 2: Nachweis von Anammox-Bakterien (rot) im Biofilm einer Kläranlage mit Hilfe von Gensonden

Bildtext 3: Matthias Horn, Astrid Collingro, Michael Wagner, Mike Taylor und Holger Daims, die Wiener Anammox-ForscherInnen