Antidepressiva können das empathische Einfühlungsvermögen verringern

Neurowissenschaftliche Forschung zeigt, dass die medikamentöse Therapie von Depression zu verringerten empathischen Reaktionen bei der Wahrnehmung von Schmerzen anderer führen kann

Depression ist eine Störung, die oft mit starken Beeinträchtigungen des Soziallebens einhergeht. Bisher galt die Annahme, dass auch empathisches Einfühlungsvermögen, eine wesentliche Fähigkeit für ein gelingendes Sozialleben, bei der Depression beeinträchtigt ist. Frühere Untersuchungen wurden jedoch meist bei Gruppen von PatientInnen durchgeführt, die großteils unter dem Einfluss von Antidepressiva standen. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von ExpertInnen auf den Gebieten der sozialen Neurowissenschaften, der Gehirn-Bildgebung und der Psychiatrie von der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien konnte nun gezeigt werden, dass die Beeinträchtigungen des empathischen Einfühlungsvermögens bei Schmerzwahrnehmung offenbar auch auf Antidepressiva zurückgeführt werden können, statt, wie bisher angenommen, vorrangig auf die Depression selbst. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Translational Psychiatry veröffentlicht.

Ein Forschungsteam um Claus Lamm vom Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden an der Universität Wien, Rupert Lanzenberger von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien und Christian Windischberger vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien hat Empathie bei depressiven PatientInnen auf neurowissenschaftlicher Ebene untersucht. Die Forschung wurde durch den interdisziplinären Forschungscluster "Multimodal Neuroimaging in Clinical Neurosciences" der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien möglich gemacht. Um die potentiell unterschiedlichen Einflüsse von akuter Depression und Antidepressiva auf das empathische Einfühlungsvermögen getrennt voneinander zu betrachten, untersuchten die ForscherInnen eine Gruppe von PatientInnen zu zwei Zeitpunkten: das erste Mal während einer akuten depressiven Phase, und zwar bevor sie Medikamente eingenommen hatten, und das zweite Mal nach dreimonatiger psychopharmakologischer Therapie mit Antidepressiva (hauptsächlich Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). 

Beide Male wurden die PatientInnen mittels funktioneller Magnetresonanztomographie untersucht, während sie Videos von Menschen sahen, die eine schmerzhafte medizinische Prozedur durchmachten. Ihre Hirnaktivität sowie ihre empathischen Beurteilungen der Videos wurden mit einer gesunden Kontrollgruppe verglichen. Es zeigte sich, dass vor der Behandlung weder die Hirnaktivität noch die Beurteilungen der akut depressiven Gruppe von der Kontrollgruppe abwichen. Erst nach dreimonatiger Einnahme von Antidepressiva konnten deutliche Unterschiede festgestellt werden: die Patientengruppe zeigte wesentlich geringere empathische Reaktionen sowohl auf der Hirn-, als auch auf der Verhaltensebene. Betroffen waren Hirnregionen, die eng mit dem empathischen Einfühlungsvermögen, aber auch mit dem Schmerzempfinden in Zusammenhang stehen.

"Diese verringerte Reaktion bei der Wahrnehmung von Schmerzen anderer war nicht auf eine allgemein gesenkte Empfindsamkeit gegenüber negativen Emotionen zurückzuführen", wie Markus Rütgen, Erstautor der Studie betont: "Der geringere emotionale Einfluss negativer Ereignisse im sozialen Bereich könnte eventuell die Genesung erleichtern. Wie sich die verminderte empathische Reaktion aber tatsächlich auf das Sozialverhalten der PatientInnen auswirkt, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein."

Publikation in "Translational Psychiatry"
Rütgen, M., Pletti, C., Tik, M., Kraus, C., Pfabigan, D. M., Sladky, R., Klöbl M., Woletz, M., Vanicek T., Windischberger, C., Lanzenberger, R., Lamm, C. Antidepressant treatment, not depression, leads to reductions in behavioral and neural responses to pain empathy. Translational Psychiatry, 9(1), 164. Published June 7, 2019.
DOI: https://doi.org/10.1038/s41398-019-0496-4

Wissenschaftlicher Kontakt

Mag. Dr. Markus Rütgen

Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden
Universität Wien
1010 - Wien, Liebiggasse 5
+43-1-4277-471 55
markus.ruetgen@univie.ac.at

Rückfragehinweis

Stephan Brodicky

Pressebüro der Universität Wien
Universität Wien
1010 - Wien, Universitätsring 1
+43-1-4277-175 41
+43-664-60277-175 41
stephan.brodicky@univie.ac.at