Wärme-adaptierte Genotypen alpiner Pflanzen könnten unter Klimawandel seltener werden

Neue Studie in der Fachzeitschrift Nature Climate Change

An kalte Temperaturen angepasste Pflanzenarten ziehen sich in Reaktion auf die Klimaerwärmung in kühlere Regionen, zum Beispiel in höhere Lagen der Gebirge zurück. Die Individuen einer Art unterscheiden sich allerdings in ihren klimatischen Ansprüchen. Wie ein wärmeres Klima die relative Häufigkeit von kälte- und wärme-adaptierten Individuen oder Genotpyen innerhalb von Arten beeinflusst ist kaum bekannt. Wissenschafter*innen der Universität Wien und der Universität Helsinki haben nun Annahmen über individuelle Variation klimatischer Ansprüche in ein Migrationsmodell für Gebirgspflanzen integriert. Das überraschende Ergebnis der Modellrechnung: während die Arten in höhere Gebirgsregionen wandern werden kälteadaptierte Genotypen häufiger, und wärmeangepasste seltener. Die Studie erscheint in der Fachzeitschrift Nature Climate Change.

Viele Studien zeigen, dass Tier- und Pflanzenarten auf die rezente Klimaerwärmung reagieren. Verschiebungen der Verbreitungsgebiete vom Äquator zu den Polen oder in höhere Lagen der Gebirge sind besonders gut dokumentiert und Modellrechnungen prognostizieren, dass diese Verschiebungen sich in den nächsten Jahren beschleunigen werden. Was in diesen Modellrechnungen selten berücksichtigt wird, ist individuelle Variation innerhalb von Arten. Die meisten Arten bestehen aus Individuen, die sich in ihren klimatischen Ansprüchen mehr oder weniger stark unterscheiden. Diese Unterschiede sind wenig erforscht, aber die Selektion wärmeadaptierter Genotypen gilt prinzipiell als eine Strategie, mit der Arten sich an die Klimaerwärmung anpassen könnten.

Ein Team von Biolog*innen der Universität Wien und der Universität Helsinki hat jetzt Migrations- und Selektionsprozesse in ein Modell integriert. Die Wissenschafter*innen simulierten die Reaktion von sechs Alpenpflanzen auf verschiedene Szenarien der Klimaerwärmung. Mangels empirischer Daten wurden die Individuen einer Art hypothetisch in wärme- und kälteangepasste Genotypen differenziert. Am Ende des Modellierungszeitraums, im Jahr 2080, wurden Veränderungen in der Größe des Verbreitungsgebietes und in der relativen Häufigkeit wärme- und kälteadaptierter Genotypen innerhalb der Arten bilanziert.

Kontra-intuitive Abnahme wärme-adaptierter Individuen

In Übereinstimmung mit früheren Studien legen die Modellrechnungen nahe, dass die Verbreitungsgebiete und Populationen von Gebirgspflanzen in einem wärmeren Klima schrumpfen werden, weil ihre Rückzugsgebiete in höheren Lagen kleinere Flächen einnehmen. Überraschend ist dagegen, dass in den Simulationen wärme-adaptierte Genotypen relativ seltener, und kälte-adaptierte häufiger werden. "Dieser Trend zeigt sich bei fünf von sechs Arten und widerspricht der intuitiven Erwartung, dass ein wärmeres Klima diejenigen Individuen bevorzugen sollte, die mit wärmeren Bedingungen besser umgehen können", sagt Johannes Wessely vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien, der Erstautor der Studie. 

Das überraschende Ergebnis lässt sich durch Konkurrenz zwischen den Individuen einer Art erklären. Die kälte-adaptierten Genotypen am kühlen Rand des Verbreitungsgebietes dringen während der vom Klimawandel ausgelösten Migration in "Neuland" vor, sie treffen während der Expansion in noch kältere Regionen keine intraspezifischen Konkurrenten. Die wärme-adaptierten Genotpyen vom unteren, warmen Rand des Verbreitungsgebietes geraten dagegen in eine Zwickmühle. Die Gebiete oberhalb ihres aktuellen Verbreitungsgebietes sind bereits von anderen Individuen der Art besetzt, die ihr Höherwandern behindern oder zumindest verzögern. Gleichzeitig wird das Klima am aktuellen unteren Rand des Verbreitungsgebietes selbst für die am besten an warme Bedingungen angepassten Individuen zu heiß. 

Plausibles Szenario, keine Vorhersage 

"Diese Resultate widersprechen der Erwartung, dass eine Selektion wärme-adaptierter Genotypen zu einer relativ raschen und erfolgreichen Anpassung von Gebirgspflanzen an den Klimawandel führen könnten", meint Wessely. Der Wissenschafter betont allerdings auch, dass die Studie eine Modellrechnung darstellt, die auf vielen Annahmen beruht. "Wir wissen viel zu wenig über die Variation von Klimaansprüchen zwischen Individuen von Gebirgspflanzen, ihre genetischen Grundlagen und ihre evolutionären Anpassungsmöglichkeiten, um diesbezüglich konkrete Vorhersagen machen zu können", ergänzt Projektleiter Stefan Dullinger, ebenfalls vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung. "Was die Ergebnisse allerdings suggerieren, ist, dass eine kontra-intuitive Selektion von Genotpyen ein plausibles Szenario darstellt, das die Anpassung von Gebirgspflanzen an den Klimawandel behindern statt erleichtern könnte. Diese Resultate unterstreichen einerseits die Notwendigkeit die Klimaerwärmung einzudämmen, andererseits die Forderung nach Ausweitung von Schutzgebieten, um den Arten den Rücken für die Klimawandelanpassung freizuhalten."

Publikation in Nature Climate Change:

Wessely, J., Gattringer, A., Guillaume, F., Hülber, K., Klonner, G., Moser, D. & Dullinger, S.: Climate warming may increase the frequency of cold adapted haplotypes in alpine plants. Nature Climate Change.

https://www.nature.com/articles/s41558-021-01255-8

DOI: 10.1038/s41558-021-01255-8

Wissenschaftlicher Kontakt

Mag., PhD Johannes Wessely

Department für Botanik und Biodiversitätsforschung
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