Homo Sapiens schon früher in Europa als bisher bekannt

"Virtuelle Anthropologie" ermöglicht neue Identifizierung der ersten modernen Menschen - Die ersten Vertreter unserer Spezies (Homo sapiens) kamen einige Tausend Jahre früher in Europa an, als man bisher dachte. Zu diesem Ergebnis kam ein WissenschafterInnen-Team unter der Leitung des Departments für Anthropologie der Universität Wien nach der erneuten Analyse von zwei prähistorischen Milchzähnen. Diese Zähne wurden 1964 in der "Grotta del Cavallo", einer prähistorischen Höhle in Süditalien, gefunden, damals aber den Neanderthalern zugeordnet. Die neue Studie zeigt, dass sie von anatomisch modernen Menschen stammen und die dazugehörigen Fundschichten 43.000 bis 45.000 Jahre alt sind. Das bedeutet, dass diese Fossilien älter sind als alle bisher bekannten europäischen Funde von modernen Menschen. Aktuell erscheint dazu ein Artikel im Fachjournal "Nature".

Die prähistorische Höhle "Grotta del Cavallo" wurde 1960 in Apulien entdeckt. Ihre sieben Meter dicken archäologischen Schichten umfassen genau jene Zeit, in der die Neanderthaler von den modernen Menschen abgelöst wurden. 1964 wurden dort von Arturo Palma di Cesnola (Emeritus der Universität Siena) zwei Milchzähne aus der sogenannten Uluzzian-Schicht ausgegraben. Charakteristika der Uluzzian-Kultur – beschrieben in mehr als 20 Fundorten in Italien – sind die Produktion von Schmuck und Knochenwerkzeugen sowie die Verwendung von Farbstoffen. Solche Artefakte werden üblicherweise mit dem symbolischen Verhalten von modernen Menschen in Verbindung gebracht. Die Zähne von Cavallo wurden in den 1960ern aber den vor 200.000 bis 40.000 Jahren lebenden Neanderthalern zugerechnet, und diese Zuordnung galt seither als Beleg, dass die Uluzzian-Kultur mit ihren komplexen Ornamenten und Werkzeugen auf die Neanderthaler zurückgehe.

Vergleich von micro-computertomographischen Zahn-Aufnahmen
Stefano Benazzi, Post-Doc am Department für Anthropologie der Universität Wien, und seine KollegInnen verglichen digitale Daten von computertomographischen Aufnahmen der menschlichen Überreste der "Grotta del Cavallo" mit einer großen Stichprobe von modernen Menschen und Neanderthalern: "Wir arbeiteten mit zwei unabhängigen Methoden: zum einen vermaßen wir die Dicke des Zahnschmelzes und zum anderen den generellen Umriss der Kronen. Mithilfe der Mikro-Computertomographie war es uns möglich, die inneren und äußeren Formmerkmale der Zahnkronen zu untersuchen: Die Resultate zeigen eindeutig, dass die Funde der Grotta del Cavallo von modernen Menschen stammen und nicht von Neanderthalern, wie ursprünglich angenommen."

Neue chronometrische Analysen der Oxford Radiocarbon Accelerator Unit
Katerina Douka, Post-Doc am Research Laboratory for Archaeology and History of Art der University of Oxford, unternahm eine umfangreiche Analyse, basierend auf der sogenannten Radiokarbon-Datierung, um eine Chronologie der Funde zu erstellen. Frühere Datierungen des Uluzzian waren problematisch und von Verunreinigungen beeinträchtigt. Da die Zähne für eine direkte Datierung zu wenig Material lieferten, entwickelte Douka einen neuen Ansatz, um die Meeresmuscheln aus derselben Fundschicht wie die Zähne zu untersuchen. Dies zeigte, dass die Zähne ca. 43.000 bis 45.000 Jahre alt sind. "Radiokarbon-Datierungen von paläolithischem Material sind schwierig, weil der Gehalt an Radiokarbon sehr klein ist und Verunreinigungen zu Problemen führen können. Muschelperlen sind wichtige Objekte des Körperschmucks und haben uns ermöglicht, direkt und verläßlich die assoziierten Menschenfunde der frühen Homo-sapiens-Siedler in Europa zu datieren", erklärt Douka.

Uluzzian-Kultur wurde von modernen Menschen geschaffen
"Die neuen Datierungen bedeuten", fasst Benazzi zusammen, "dass diese zwei Zähne der 'Grotta del Cavallo' die ältesten modernen Menschen in Europa repräsentieren, die man bisher kennt. Dieser Fund bestätigt, dass die Ankunft unserer Spezies auf dem Kontinent einige tausend Jahre früher war. Damit war auch die Koexistenz mit den Neanderthalern länger, als bisher angenommen. Mit diesen fossilen Belegen haben wir auch bestätigt, dass moderne Menschen und nicht Neanderthaler die Uluzzian-Kultur geschaffen haben." Die ForscherInnen ziehen daraus wichtige Folgerungen zur Entwicklung des Verhaltens moderner Menschen. Ob die Kolonisation des Kontinents in einer oder in mehreren Migrationswellen erfolgte und welche Routen dabei genommen wurden, sind Fragen, die nach wie vor unbeantwortet sind.

Internationale Zusammenarbeit macht es möglich
Gerhard Weber, Leiter der Core Facility für Micro-Computed Tomography und stellvertretender Leiter des Departments für Anthropologie der Universität Wien, kommentiert die Forschungsergebnisse folgendermaßen: "Menschliche Fossilien sind sehr selten, vor allem solch gut erhaltene Milchzähne. Es ist der Zusammenarbeit von mehreren europäischen Institutionen zu verdanken, dass das fossile Material für die entsprechenden Analysen zur Verfügung stand. Die Neubewertung des Cavallo-Materials ist durch technische Innovationen möglich, die in den letzten zehn Jahren entwickelt wurden. Man kennt das heute als 'Virtuelle Anthropologie'. Diese neuen Techniken der Zahnmessungen und jene der Radiokarbon-Datierungen werden helfen, auch Fragen der Einordnung von anderen, umstrittenen Fossilmaterialien zu beantworten."

Fördergeber
Diese Arbeit wurde gefördert von NSF 01-120 Hominid Grant 2007, A.E.R.S. Dental Medicine Organisations GmbH FA547013, die Foundation Fyssen und dem DFG INST 37/706-1 FUGG. Die Oxford Radiocarbon Accelerator Unit ist teilfinanziert durch das Natural Environment Research Council (NERC). http://www.nerc.ac.uk/

Publikation
The Early dispersal of modern humans in Europe and implications for Neanderthal behaviour. Benazzi, S., Douka, K., Fornai, C., Bauer, C.C., Kullmer, O., Svoboda, J., Pap, I., Mallegni, F., Bayle, P., Coquerelle, M., Condemi, S., Ronchitelli, A., Harvati, K., Weber, G.W. In: Nature, 3. Nov 2011.
DOI 10.1038/nature10617

Wissenschaftliche Kontakte (in englischer Sprache)
Dr. Stefano Benazzi
Department für Anthropologie
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1090 Wien, Althanstraße 14
T +43-1-4277-547 29
M +39-328-284 06 16
stefano.benazzi(at)univie.ac.at

Dr. Katerina Douka
University of Oxford Press Office
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katerina.douka(at)rlaha.ox.ac.uk
(speziell für Datierungsfragen)

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