Anatomische Vereinfachungen erlauben mehr Komplexität bei menschlicher Sprache

Zwei Frauen unterhalten sich miteinander

Menschen verloren Stimm-Membranen in der Evolution und erlangten dadurch eine stabilere und melodiöse Stimme, die Sprechen möglich machte

Ein Team rund um Co-Autor und Kognitionsbiologen Tecumseh Fitch von der Universität Wien und Erstautor Takeshi Nishimura von der Kyoto University untersuchte die evolutionäre Entwicklung der menschlichen Stimme und fand dabei Erstaunliches heraus: Durch eine anatomische Vereinfachung hat sich der menschliche Stimmapparat schließlich so verändert, dass Menschen eine komplexere Sprache entwickeln konnten. Die Studie erscheint aktuell im Fachmagazin Science. 

Während seit langem bekannt ist, dass Schimpansen und andere Menschenaffen nicht wie Menschen sprechen und singen können, sind die Gründe dafür nach wie vor unklar. Obwohl die deutlichsten, evolutionären Veränderungen im Gehirn stattgefunden haben, dürften auch anatomische Adaptierungen im Stimmapparat eine wichtige Rolle gespielt haben. Eine aktuelle Studie eines großen internationalen Forschungsteams aus Japan und Europa zeigt, dass anatomische Veränderungen im Larynx (der Kehle) der Menschen die Basis für die stabile, klare Stimmgebung bei der menschlichen Sprache bilden.

Überraschenderweise beruht diese evolutionäre, anatomische Veränderung auf dem Verlust eines spezifischen Teils des Kehlkopfes: Während sich bei den meisten (Menschen-)Affen eine dünne, bandförmige Stimm-Membran an der Oberfläche der beiden Stimmlippen befindet, haben die Menschen diese Membranen im Laufe der Evolution verloren. Diese Vereinfachung in unserer Stimmanatomie hat vermutlich – in Verbindung mit weiteren anatomischen Anpassungen – dafür gesorgt, dass wir Menschen mit einem reineren Stimmklang und einer besser kontrollierbaren Tonhöhe sprechen und singen können. Es ist daher anzunehmen, dass – fast paradoxerweise – die erhöhte Komplexität der menschlichen Sprache unter anderem durch eine Vereinfachung im Stimmapparat ermöglicht wurde.

Für den Co-Autor der Studie, Tecumseh Fitch von der Universität Wien, stellen die Studienergebnisse eine große Überraschung dar: "Diskussionen über die Veränderungen in der menschlichen Kehle und im Mundraum gibt es schon seit vielen Jahren, aber nun konnten wir zum ersten Mal die Anatomie der Kehle bzw. der Stimmlippen einer größeren Anzahl von Primaten genauer untersuchen", sagt Fitch. "Überraschenderweise hatten fast alle (Menschen-)Affen Stimm-Membranen, was zeigt, dass wir Menschen jene während der Evolution verloren haben. Wir konnten bei der Untersuchung lärmartiger Rufe und Schreie von Primaten zeigen, dass bei deren Stimmproduktion regelmäßig auch die in der Studie beschriebenen Stimm-Membranen involviert sind. Computer-Modelle zeigen, dass jene Membranen die Erzeugung von lauten, hochfrequenten Vokalisationen ermöglichen, aber auch eine gewisse Rauigkeit und Instabilität in der Klangqualität bedingen. Wir können annehmen, dass die eher melodiöse Qualität der menschlichen (Sprech-)Stimme eine direkte Konsequenz unseres evolutionären Verlustes der Stimm-Membranen ist. In jedem Fall waren für unseren Spracherwerb aber auch andere evolutionäre Veränderungen nötig, vor allem im Gehirn. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die anatomische Vereinfachung unseres Stimm-Apparates maßgeblich zur menschlichen Fähigkeit zu sprechen und singen beigetragen hat."

Originalpublikation: 

2022: Nishimura, T., Tokuda, I. T., Miyachi, S., Dunn, J. C., Herbst, C. T., Fitch, W. T.. Evolutionary loss of complexity in human vocal anatomy as an adaptation for speech. Science. 

DOI: 10.1126/science.abm1574

Wissenschaftlicher Kontakt

Univ.-Prof. W. Tecumseh Fitch

Department für Kognitionsbiologie
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Rückfragehinweis

Theresa Bittermann, BA

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