Alte DNA zeigt: Wurzeln der uralischen Sprachen wie Finnisch liegen in Zentralsibirien
02. Juli 2025
Kriegerbegräbnis mit Knochenpanzerplatten in der Kyordyughen-Stätte (Ymyakhtakh-Kultur, Zentralsibirien, ca. 2000 v. u. Z.). Eine ähnliche, aus Mammutstoßzähnen gefertigte Plattenrüstung wurde in der Seima-Turbino-Stätte von Rostovka bei Omsk dokumentiert, was die westliche Übertragung der mitteleuropäischen Kulturtraditionen im Zusammenhang mit dem Seima-Turbino-Phänomen verdeutlicht. C: Aleksandr Stepanov
Neue Erkenntnisse über die Urgeschichte zweier großer nordeurasischer Sprachfamilien
Woher stammen die uralischen Sprachen wie etwa Finnisch und Ungarisch oder das Jenisseische? Antworten könnte alte DNA liefern: Forscher*innen unter Beteiligung von Ron Pinhasi von der Universität Wien analysierten das Genom von 180 Individuen von der Wolga-Ural-Region bis zum Lena-Tal in Zentralsibirien im Zeitraum vom Mesolithikum (vor ca. 11.000 Jahren) bis zur Bronzezeit (vor ca. 4.000 Jahren). Die Ergebnisse zeigen, dass zwei Populationen einerseits mit der frühen Ausbreitung uralischer Sprachen wie Finnisch, Estnisch und Ungarisch in Verbindung gebracht werden können sowie andererseits mit der Verbreitung des Jenisseischen. Letzteres wird heute nur noch vom Volk der Ket gesprochen, wurde aber einst in einem größeren Gebiet in Sibirien gesprochen. Die Ergebnisse der Studie wurden aktuell im renommierten Fachmagazin Nature veröffentlicht.
Die neuen Forschungsergebnisse zeigen, wie vor 10.000 bis 6.000 Jahren spätsteinzeitliche Jäger*innen und Sammler*innen-Gesellschaften, die verteilt über den Waldgürtel Nordeurasiens lebten, durch Vermischung mit wandernden Bevölkerungsgruppen beeinflusst wurden. Zwei der untersuchten archäologischen Gruppen hinterließen langfristige sprachliche und demografische Spuren, die entscheidend für die Ausbreitung der uralischen Sprachen waren. Das internationale Team besteht aus Spezialist*innen aus den Bereichen Genetik und Archäologie, und baut auf mehr als einem Jahrzehnt gemeinsamer Arbeit und Datenerhebung in Nordeurasien auf.
Die Forscher*innen konnten durch ihre aDNA-Analyse die sogenannten Jakutien-Population der Spätneolithikum-Bronzezeit (vor 4.500-3.200 Jahren) als einen der Schlüsselfaktoren identifizieren, die maßgeblich zur Genetik von fast allen heutigen uralisch sprechenden Völkern beigetragen hat. Diese Gruppe kam zuerst nach Westsibirien und dann nach Osteuropa. Diese Wanderbewegung steht auch im Zusammenhang mit dem Seima-Turbino-Phänomen, einer raschen kulturellen und technologischen transkontinentalen Expansion, die durch die Verbreitung der Bronzemetallurgie gekennzeichnet war. Die neuen Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Wanderbewegung auch die früheste westliche Ausbreitung der uralischen Sprache markiert.
Auch die Cis-Baikal Gruppe des Spätneolithikums (vor 5.100-3.700 Jahren) spielte eine wichtige Rolle: Die Studie identifizierte eine Population von spätbronzezeitlichen Individuen aus der Baikalregion und der Region um den Oberen Jenissei, einem sibirischen Fluss, als die wahrscheinlichste genetische Wurzel der jenisseischen Sprachgeschichte.
"Durch die Generierung und Analyse einer großen Anzahl von Genomen von Individuen aus den relevanten archäologischen Fundstätten haben wir nun neue Einblicke in die vergangenen Verbindungen zwischen Menschen, ihrer materiellen Kultur und ihren Sprachen gewonnen", sagt Ron Pinhasi, Co-Erstautor von der Universität Wien.
"Eine Sprache lässt sich nicht direkt aus Genomen lesen, aber wenn genetische Abstammung, archäologischer Kontext und Sprachgeografie zusammenkommen, sind fundierte Rückschlüsse möglich", so Leonid Vyazov, Co-Erstautor von der Universität Ostrava. "Unsere Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung multidisziplinärer Forschung und internationaler Zusammenarbeit für die Rekonstruktion komplexer prähistorischer Entwicklungen."
Die Studie dokumentiert auch Kontaktzonen, in denen uralische Sprecher*innen mit indo-iranischen Steppengruppen interagierten, und liefert damit einen plausiblen Kontext für bekannte sprachliche Entlehnungen.
Originalpublikation:
Pinhasi, R., Reich, D., Vyazov, L. et al: 'Ancient DNA reveals the prehistory of the Uralic and Yeniseian peoples'. In: Nature, 2025.
DOI: 10.1038/s41586-025-09189-3
Abbildung:
Kriegerbegräbnis mit Knochenpanzerplatten in der Kyordyughen-Stätte (Ymyakhtakh-Kultur, Zentralsibirien, ca. 2000 v. u. Z.). Eine ähnliche, aus Mammutstoßzähnen gefertigte Plattenrüstung wurde in der Seima-Turbino-Stätte von Rostovka bei Omsk dokumentiert, was die westliche Übertragung der mitteleuropäischen Kulturtraditionen im Zusammenhang mit dem Seima-Turbino-Phänomen verdeutlicht. C: Aleksandr Stepanov
Wissenschaftlicher Kontakt
Univ.-Prof. Ron Pinhasi, PhD
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+43-664-60277-547 21
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