1. Franz Vranitzky Chair for European Studies: Vergabe an Lutz Niethammer, dem Doyen der Alltagsgeschichte
01. Oktober 2008Lutz Niethammer (Download siehe Textende)
Mit Anfang Oktober übernimmt der renommierte Alltagshistoriker Lutz Niethammer den 1. Franz Vranitzky Chair for European Studies. Die neue, jeweils für ein Jahr eingerichtete Professur wird im ersten Jahr am Institut für Zeitgeschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angesiedelt. Am Dienstag, 7. Oktober 2008, 18 Uhr, hält emer. Univ.-Prof. Dr. Lutz Niethammer eine öffentliche Vorlesung im Kleinen Festsaal der Universität Wien.
Inhaltlicher Schwerpunkt von Niethammers Forschungs- und Lehrtätigkeit sind die zwei großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts: 1945 das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Bruch mit dem Nationalsozialismus sowie 1990 der Fall des Eisernen Vorhanges und der Bruch mit dem Kommunismus. In den 1970er Jahren war seine Forschungstätigkeit über die Entnazifizierung in Bayern noch vornehmlich klassische Archivarbeit mit schriftlichen Quellen. Niethammer hingegen entwickelte jenen neuen Forschungsansatz, der seither als Alltagsgeschichte oder Erfahrungsgeschichte zu einer wichtigen Ergänzung der traditionellen Geschichtsschreibung wurde. In einem Interview erklärte Niethammer seine Forschungsinteressen so: "Wir haben uns nicht für diejenigen Menschen interessiert, die ohnehin Quellen zur Verfügung stellen … Stattdessen haben wir uns für diejenigen interessiert, die normalerweise keine Tagebücher führen, keine Akten hinterlassen, über die höchstens mal die Polizei berichtet aber sonst niemand." Bis heute gilt der erste Band seiner Studie Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960: Band 1, Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet (1986) als Pionierwerk dieses neuen Ansatzes.
Wegbereiter der Oral History
Aufbauend auf diese breit angelegte und professionell betriebene Befragung von "einfachen" Menschen legte Niethammer (gemeinsam mit Kollegen wie Alexander von Plato u.a.) den Grundstein für die Forschungsmethode der Oral History. Dabei ist das Aufzeichnen der Erzählungen bzw. Erinnerungen nur der erste Schritt einer mehrstufigen Vorgangsweise. Die nieder geschriebenen Interviews werden einer sorgfältigen Textanalyse unterzogen, um sie angemessen interpretieren zu können.
Kurzbiografie von Lutz Niethammer
Lutz Niethammer, geb. 1939 in Stuttgart, promovierte 1971 bei Werner Conze in Heidelberg. 1973-82 Professor für Neuere Geschichte an der Universität/Gesamthochschule Essen, Gründungsdirektor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Danach bis 1993 Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen, anschließend bis 2005 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gastprofessuren bzw. Forschungsaufenthalte an dem St. Antony's College in Oxford, dem Maison des Sciences de l'Homme in Paris, der Open University in York, der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin (Ost), das Wissenschaftskolleg zu Berlin und das Europäische Universitätsinstitut in Florenz. 1980-94 deutscher Vertreter der Oral History Association, 1990-92 deren Vorsitzender. 2005 Emeritierung. Niethammer leitet weiterhin Forschungsprojekte, etwa über Doping im Sportsystem der DDR.
Antrittsvorlesung: Erfahrungsgeschichtliche Erwägungen zur Konstruktion Europas
Zeit: Dienstag, 7. Oktober 2008, 18 Uhr
Ort: Universität Wien, Kleiner Festsaal, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien
Weitere Information in der Online-Zeitung der Universität Wien
Rückfragehinweis
Mag. Veronika Schallhart
Öffentlichkeitsarbeit
Universität Wien
1010 Wien, Dr.-Karl-Lueger-Ring 1
T +43-1-4277-175 30
M +43-664-602 77-175 30
veronika.schallhart(at)univie.ac.at
Foto Lutz Niethammer (privat)