Ostasien

Unterschiede im Kampf gegen Corona: "Die Bevölkerung integrieren"

28. Jänner 2021 von Sarah Nägele
Maskenverweigerung und Coronaleugner*innen? Fehlanzeige. Während in Europa ein Lockdown dem anderen folgt, scheint Corona in Ostasien Geschichte. Warum die Bevölkerung dort selbst in der Pandemiebekämpfung aktiv wird und welche Rolle die Impfung spielt, erklärt Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik.
"In Korea, Taiwan und in Teilen Hong Kongs wird sehr viel indirekt gemacht, Stichwort digitale Überwachung, damit der Staat nicht so in den Vordergrund tritt," so Sinologin Weigelin-Schwiedrzik. © Pexels/zydeaosika

Rudolphina: Ostasiatische Länder wie Südkorea, Taiwan oder auch China haben die Corona-Pandemie schneller in den Griff bekommen als Europa. Welche Maßnahmen sind daran schuld?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Der wichtigste Unterschied zwischen Europa und Asien ist, dass man in Asien interessanterweise auf die Bevölkerung setzt und nicht auf den Staat. Hierzulande greift der Staat für unsere Verhältnisse extrem hart ein, ohne dass das Problem gelöst wird. In Taiwan wurden bereits im Januar 2020 Schulen und Universitäten für einen Monat geschlossen. Das ist eine Maßnahme, die von der WHO als wichtig gekennzeichnet wird, weil die Mobilität in der Gesellschaft damit extrem nachlässt. Es geht nicht um die Ansteckung in der Schule oder der Uni, es geht um die Reduktion der Mobilität! In Taiwan gab es keinen Lockdown. Dennoch haben mir alle Leute, die ich in Taiwan kenne, gesagt: Die Straßen sind menschenleer. Das heißt, die Bevölkerung hat entschieden: Es wird gefährlich, und wir müssen Acht geben. Und sie haben sich sehr schnell organisiert mit Digital Learning, Homeoffice etc., weil sie eben schon diese schreckliche SARS-Epidemie von 2003 erlebt hatten. Deshalb haben die Menschen in der ersten Unsicherheit gleich sehr weitgehende Maßnahmen ergriffen. Als in Wuhan dieser wahnsinnige Ausbruch war, wurde die Stadt total abgeriegelt, und es durfte niemand raus oder rein. Diese ganz lokalen und harten Lockdowns wurden nicht nur in China, sondern auch in Korea durchgeführt und haben dazu geführt, dass nie die gesamte Wirtschaft still stand, sondern nur da, wo auch ein harter Lockdown vorgenommen wird. In dem harten Lockdown gehen die Leute dann auch nicht mehr arbeiten. In Korea, Taiwan und auch in Teilen Hong Kongs wird sehr viel indirekt gemacht, Stichwort digitale Überwachung, damit der Staat nicht so in den Vordergrund tritt.

Rudolphina: Ich habe gelesen, dass gerade in Ländern wie Taiwan ein gewisses Bürgerengagement in der Krisenbekämpfung zentral war, dass die Leute Freude daran gefunden haben, sich Strategien zu überlegen, sich lokal zu organisieren, Apps zu entwickeln etc. Wohingegen wir Europäer*innen eher sagen: "Ach, jetzt hat uns die Regierung schon wieder eingesperrt."

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Das meine ich. Die gesellschaftliche Aktivität ist groß, der Staat kann sich zurückhalten und zieht nicht den ganzen Unmut auf sich. Die Menschen sind schlau und aktiv genug, sich solche Maßnahmen zu überlegen, weil sie eben viel mehr Erfahrungen im Umgang mit solchen Krankheiten haben als wir. Ich glaube, daraus könnte man auch für künftige Probleme den Schluss ziehen, dass man die Gesellschaft viel mehr in die Lösung des Problems integriert. Beispiel Massentests: Man könnte auch Leute vor Ort mobilisieren und fragen "Wer kann bei der Organisation helfen?" Aber wenn man auf die Ressource Bundesheer zurückgreift, braucht man die Bürger*innen nicht. China wird immer mächtiger und sagt seiner Bevölkerung jetzt: "Wir haben das Coronavirus sehr gut bekämpft, wohingegen es Amerika und Europa nicht schaffen, mit dem Virus umzugehen." Das Ergebnis ist, dass die ostasiatischen Länder um China herum spüren, dass China immer größenwahnsinniger wird und deshalb sagen: "Wir dürfen keine Schwäche zeigen." Die Medien in China machen sich lustig über den Umgang Europas und Amerikas mit der Pandemie. Sie wollen ihrer Bevölkerung vermitteln, dass der Streit in unserer Gesellschaft ein Zeichen der Schwäche ist. Deshalb sind die Nachbarn Chinas bemüht, Einheit zu demonstrieren, damit in China nicht die Auffassung entsteht, dass auch sie schwach sind.

Rudolphina: Die chinesische Bevölkerung ist sehr groß und divers – können Sie trotzdem etwas dazu sagen, welchen Blick die Bevölkerung gerade auf Europa hat? Stichwort Coronaleugner*innen.

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Schwer zu sagen, da wir in unserer Kommunikationsmöglichkeit sehr eingeschränkt sind. Wir können ja nicht über alle Fragen mit unseren Freunden sprechen, ohne dass sie abgehört werden. Ich bekomme aber mit, dass die Menschen in China der Auffassung sind, dass ihre Regierung auch Fehler macht, aber andererseits sagen: "Die Regierung hat Maßnahmen ergriffen, dank derer ich überlebt habe, und unsere Wirtschaft kommt wieder in Gang." Dementsprechend ist die Reaktion: Bei euch geht es drunter und drüber, bei uns geht es aufwärts. Sie kommen zu dem Schluss, dass wir hier in einer Wohlstandsgesellschaft leben, die seit der Spanischen Grippe keine ähnliche Krise mehr durchlebt hat. Wir haben unsere Armut an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wenn es Arbeitslosigkeit gibt, werden wir von einem System der sozialen Sicherung aufgefangen. Das gibt es in Ostasien in dieser Form nicht. Dementsprechend sagen die Chines*innen: Ja, ihr seid halt so richtige Wohlstandsschmarotzer, die gar nicht wissen, dass das Leben eine prekäre und fragile Angelegenheit ist. Nur so können sie verstehen, dass so viele nicht kapieren, dass es um Leben und Tod geht.

Rudolphina: Die Mobilität im Land ist also ein Schlüssel. In diesem Punkt sind die Corona-Apps wichtig, richtig?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Ja. Die Menschen in Ostasien sagen: Wenn der Vorteil der App darin besteht, dass ich mich mehr bewegen kann oder mein Risiko senke, dann mache ich das. Ich habe die Corona-App hier in Österreich hochgeladen und ich habe noch nie eine Nachricht bekommen. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass die Leute bei der Kosten-Nutzen-Abwägung sagen: Warum sollte ich die App installieren, wenn sie nichts bringt? In Ostasien vertraut man darauf, dass diese Apps gut laufen, und man macht ja auch die Erfahrung, dass sie das tun. Außerdem zeigen Untersuchungen, dass man in China und auch in Taiwan, Korea und Japan ein anderes Verständnis von Privatsphäre hat. Der Schutz dieser hat keinen so hohen Stellenwert. Wer aktuell nach Taiwan einreist, muss zwei Wochen in Quarantäne. Man wohnt in einem Hotel, und das Hotel muss garantieren, dass man es nicht verlässt. Wenn jemand sagt: "Ich möchte nicht im Hotel wohnen, ich habe Familie hier", dann wird das erlaubt, aber man muss zustimmen, dass ein digitaler Zaun um das Haus, in dem man wohnt, errichtet wird. Jeder Versuch rauszukommen wird sofort gemeldet und bestraft.

Rudolphina: In Europa scheint jetzt der Impfstoff der große Retter aus der Krise zu sein. Welche Rolle spielt denn die Impfdebatte in Ostasien?

Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Nach meiner Beobachtung ist die Impfstoffdebatte dort nicht so wichtig wie hier bei uns. In Taiwan gab es seit mehr als 200 Tagen keine Ansteckung mehr. Es gab in dieser Zeit zwar noch den einen oder anderen Fall, aber nach Aussage der taiwanesischen Regierung waren das alles Leute, die einreisten, sofort identifiziert und isoliert wurden und keine weiteren Menschen angesteckt haben. Insofern sagt man in Ostasien: Eine Impfung ist zwar gut und schön, aber das Virus kann man auch auf andere Art und Weise loswerden. Auch die Erfahrungen mit SARS und der Schweinegrippe bestätigen das. Hinzu kommt, dass China sicherlich gerne verkündet hätte, dass sie als erstes Land einen Impfstoff gefunden haben, dem war aber nicht so. Deshalb wird die Bedeutung des Impfstoffes nicht in den Vordergrund gestellt. Das ist natürlich ein Wettrennen, weil auf diese Art und Weise die verschiedenen Kontinente beweisen können, wie gut sie in der Wissenschaft aufgestellt sind, und das ist auch Teil der politischen Macht.

Rudolphina: Danke für das Gespräch!

© Barbara Mair
© Barbara Mair
Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Professorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien. Ihre Hauptforschungsbereiche sind chinesische Geschichtsschreibung und Biographie des 20. Jahrhunderts, zeitgenössischer chinesischer Diskurs über die Erinnerung an die große Hungersnot und die Kulturrevolution und zeitgenössische chinesische Politik.