Trotz COVID-19 die Tagesstruktur beibehalten

Mutter mit Kind

Viele Familien stehen derzeit vor der herausfordernden Aufgabe, Tätigkeiten, die normalerweise in der Schule und am Arbeitsplatz getrennt stattfinden, in den Alltag zuhause zu integrieren. Die Psychologin Sabine Buchebner-Ferstl analysiert, wie es Familien mit Homeschooling und Homeoffice geht.

Der Begriff "Corona-Ferien" stellt in ähnlicher Weise einen Euphemismus dar wie die Bezeichnung "Karenzurlaub": Die Erholung und Entspannung suggerierenden Begriffe spiegeln die Realität höchst unzureichend wider. Der spezielle Charakter, der den beschriebenen Situationen fern vom Arbeitsplatz innewohnt, besteht in der weitgehenden Eigenverantwortung bei der Umsetzung, auch, weil das zeitliche Korsett seitens der Schule und der Lehrpersonen beziehungsweise auch des Arbeitgebers unterschiedlich eng geschnürt ist.

Familienalltag erfolgreich bewältigen

Aus psychologischer Sicht wird die Etablierung eines geregelten und strukturierten Tagesablaufs empfohlen, um den Familienalltag in der aktuellen Ausnahmesituation erfolgreich bewältigen zu können. Die damit verbundene Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Kontrolle vermittelt Sicherheit und kann einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der emotionalen Stabilität zu leisten. 

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Im Rahmen einer qualitativen "ÖIF-Mikro-Studie" wurden Anfang April Familien mit Kindern ersucht, ihre Einschätzungen und Erfahrungen bei der Gestaltung und Strukturierung des Familienalltags im Rahmen eines kurzen Fragebogens schriftlich zu dokumentieren. Dabei wurde auch der Kinderperspektive Raum gegeben: Auch Kinder und Jugendliche wurden eingeladen, selbst zu Protokoll zu geben, wie sie die aktuelle Situation – insbesondere das Homeschooling – erleben. Insgesamt neun Familien kamen dieser Einladung nach. 

Variationen der Strukturierung 

Grundsätzlich besteht eine weitgehende Einigkeit darüber, dass dem Faktor Struktur eine wichtige Bedeutung zukommt. So schreibt etwa Anna, Mutter einer elfjährigen Tochter: "Ich finde gewisse Struktur einzuhalten als sehr wichtig. Man muss nicht so zeitig aufstehen, wie im 'normalen' Alltag. Aber fixe Punkte – persönliche Hygiene, dreimal am Tag Essen und auch regelmäßiges Lernen, den Unterschied zwischen Lern- und Freizeit zu formulieren und auch einhalten, sind sehr wichtig."

Auch der Nachmittag und Abend beziehungsweise die Freizeitgestaltung verlaufen klar strukturiert und für die Kinder vorhersehbar. In der Familie von Caroline, sie hat drei Kinder im Alter von 17, 13 und neun Jahren, gibt die elterliche Erwerbsarbeit den Takt vor. Eine Tagesstruktur existiert, aber diese "richtet sich sehr nach unserer Arbeit".

Eigenverantwortung als Benefit

Für Florian, Vater von drei Söhnen im Alter von 15 bis 18 Jahren, stehen wiederum weniger fixe Zeitstrukturen als vielmehr Tasks im Vordergrund: "Jeder von uns weiß, was er an dem Tag zu tun hat." Die Jugendlichen strukturieren sich ihren Tag, ebenso wie die Eltern, selbstständig.

Diese Eigenverantwortung wird insbesondere von den älteren Jugendlichen in den höheren Schulen, die selbständiges Arbeiten ohnehin gewohnt sind, durchaus als Bereicherung erlebt. Der Abstimmung mit persönlichen (Lern-)Bedürfnissen kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. So sieht es die 15-jährige Gerda als Vorteil, dass man sich aufgrund der veränderten Lernsituation "vermehrt mit dem Unterrichtsstoff beschäftigt und es somit besser verstehen kann".

Homeoffice, wenn das Kind schläft

Nicht in jedem Fall lassen sich Strukturen in für alle Familienmitglieder zufriedenstellender Weise schaffen. Kinder im vorschulischen Alter stellen Eltern, die im Homeoffice tätig sind, unweigerlich vor Herausforderungen. Ines, Mutter eines sechsjährigen Sohnes, arbeitet in eingeschränktem Ausmaß im Homeoffice, während ihr Mann weiterhin einer regulären Erwerbstätigkeit nachgeht. Der Tagesablauf ist primär an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. Homeoffice "gibt es morgens und abends, wenn das Kind schläft, oder wenn Papa zu Hause ist".

Verzahnung mit den individuellen Bedürfnissen

Auch wenn hier lediglich ein kleiner Ausschnitt der Realität von Familien in Österreich abgebildet werden konnte, spiegeln die Rückmeldungen nicht nur die Bedeutsamkeit von Alltagsstrukturen in der aktuellen Krisensituation wider, sondern verweisen auch auf deren enge Verzahnung mit den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder. Diese können sich je nach Familienkonstellation, beruflicher Situation der Eltern und Alter der Kinder durchaus sehr unterschiedlich präsentieren. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Schaffung bedürfnisgerechter Strukturen in der aktuellen Krisensituation nicht allein Aufgabe der Familie sein kann.  

Sabine Buchebner-Ferstl ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien (ÖIF). (© privat)

Die Langversion des Artikels "Trotz COVID-19 die Tagesstruktur beibehalten" ist in der Mai-Ausgabe 2020 des Magazins beziehungsweise des Informationsdienstes des Österreichischen Instituts für Familienforschung an der Universität Wien erschienen.