Sommerserie: Wien erforschen (3)

In der uni:view-Sommerserie erzählen internationale Lise-Meitner-Fellows von sich und ihrer Forschung an der Universität Wien, Zukunftsplänen und ihren Lieblingsplätzen in Wien. Heute: Jozef Tancer aus der Slowakei, der am Institut für Germanistik forscht.

Warum Wien und die Universität Wien:
Mit der Universität Wien verbinden mich zahlreiche Kontakte zu KollegInnen von diversen philologischen und historischen Instituten. Die Erforschung der Reiseliteratur, der mein Interesse gilt, hat am Institut für Germanistik eine wichtige Tradition.


Jozef Tancer verbringt die Zeit während seines Lise-Meitner-Fellowships mit seiner Familie in Wien. Gemeinsam mit seinem achtjährigen Sohn ist er oft in großen Parks wie dem Augarten anzutreffen.



Mein Lise-Meitner-Projekt:
Warum ist Paris die Stadt der Liebe, Wien die Stadt der Genüsse und Bratislava die erste Stadt im Orient? Mein Forschungsprojekt untersucht, wie in der Reiseliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Stadtbilder entstehen und tradiert werden. Am Beispiel der Stadt Pressburg/Bratislava zeige ich zum einen die historische Entwicklung der stadttypischen Vorstellungen und zum anderen frage ich danach, an welche Ziele die Herstellung des Images einer Stadt im Bereich des Fremdenverkehrs gebunden ist. Ein solches Verfahren macht es möglich, die Kontinuität in der Herstellung der Stadtbilder trotz der zahlreichen Brüche in der Geschichte der Stadt zu beobachten. Zudem zeigt es, dass diese Stadt nie nur eine einzige Stadt war – eine ungarische, deutsche oder slowakische –, sondern dass es auf einem und demselben geographischen Territorium immer verschiedene Parallelstädte gegeben hat und gibt.

Meine Lieblingsplätze in Wien:
Ich kenne Wien seit meiner Jugend. Zuerst war es für mich in erster Linie der Ort großer Schachturniere des 19. Jahrhunderts. Als ich 1989 das erste Mal nach Wien kam, interessierte mich einzig das Café Central, die berühmte "Schachhochschule".


Jozef Tancer: "Von der Schachtradition in den Wiener Kaffeehäusern ist leider so gut wie nichts übrig geblieben. Gott sei Dank gibt es noch immer gute Cafés, in denen man sogar ungestört arbeiten kann – das Café Eiles zum Beispiel."



Zehn Jahre später, während meines ersten hiesigen Studienaufenthalts, faszinierten mich die Wiener Bibliotheken. Sie faszinieren mich immer noch. Ein bisschen trauere ich der etwas düsteren, aber viel intimeren Atmosphäre der Österreichischen Nationalbibliothek am Heldenplatz vor ihrem Umbau nach. Meine Lieblingsbibliothek in Wien ist die ehemalige Wiener Stadt- und Landesbibliothek, die nun "Wienbibliothek im Rathaus" heißt.


An den neuen Namen seiner Lieblingsbibliothek in Wien, der ehemaligen Wiener Stadt- und Landesbibliothek, kann sich Jozef Tancer irgendwie nicht gewöhnen: "Der alte Name der Bibliothek war ein Begriff, die Abkürzung WSLB brauchte man für das Fachpublikum nicht aufzulösen. Zum Rathaus gehört eher ein Weinkeller …"



Als Historiker war ich immer ein leidenschaftlicher Museumsgänger. Die Höhepunkte meiner diesjährigen Museumserkundungen sind die Sammlungen des Küchengeschirrs in der Hofburg und die kaiserlichen Spucknäpfe und Betstühle im Hofmobiliendepot.
Da ich meinen Aufenthalt in Wien mit meiner Familie verbringe, ist für mich Wien auch die Stadt der Kindergärten, Schulen, Ärzte, Eissalons, großen Parks (Augarten!), Freibäder und der U-Bahn-Linie 5. Erst mein achtjähriger Sohn machte mich darauf aufmerksam, dass es diese eigentlich gar nicht gibt.

Was mich überrascht hat:
Bratislava und Wien haben viele gemeinsame Traditionen – nicht umsonst wurde Bratislava auch "Vorort Wiens" genannt. Aber die heutige Lebenswelt ist in diesen beiden Städten anders. Bewegt man sich nur in den Innenstädten, so wirkt Wien museal, Bratislava dagegen dynamisch und pulsierend. Geht man in die entfernteren Bezirke, so zeigen sich in Bratislava dessen Provinzialität und in Wien dessen großstädtischer und "imperialer" Charakter, den ich erst jetzt zum ersten Mal intensiv erlebt habe.

Pläne für die Zukunft:
Mein Forschungsaufenthalt neigt sich dem Ende zu. Ab dem 1. September 2012 werde ich wieder meine Tätigkeit an der Philosophischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava aufnehmen und mein Habilitationsverfahren einleiten. Ich hoffe, Wien wird für mich weiterhin ein wichtiger Arbeits- und Lebensbezugsort bleiben. Für die Jahre 2013 und 2014 bereite ich mit meinen Wiener Kollegen von der Germanistik und der Medienforschung (ÖAW) gemeinsame Tagungen und Workshops vor.



Kurz-CV:
Jozef Tancer hat Germanistik und Geschichte an den Universitäten in Bratislava, Bremen und Wien studiert und promovierte in Bratislava über das deutschsprachige Pressewesen Pressburgs im 18. Jahrhundert. Seit 2001 ist er Assistent am Lehrstuhl für Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik der Comenius-Universität Bratislava und seit September 2011 Postdoc-Fellow am Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche und österreichische Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, historische Presse, Reiseliteratur, Stadtsemiotik und Mehrsprachigkeit.



Mit dem Lise-Meitner-Programm fördert der FWF hoch qualifizierte WissenschafterInnen aller Fachdisziplinen, die an einer österreichischen Forschungsstätte zur weiteren Entwicklung der Wissenschaften beitragen können. (Copyright Vorlage Coverbild: studio.es/flickr.com)