"Ohne Mathematik geht heute überhaupt nichts"

Christian Krattenthaler von der Fakultät für Mathematik kommentiert in seinem Gastbeitrag den Artikel "Die Maturakrise und das Mathematiktrauma in den Schulen" von Kurt Kotrschal in "Die Presse".

In der Ausgabe der Presse vom 3. Juli erschien unter der Rubrik "Mit Federn, Haut und Haar" ein Artikel über "Die Maturakrise und das Mathematiktrauma in den Schulen". Prof. Kurt Kotrschal, renommierter Zoologe an der Universität Wien, vermischt darin unüberprüfbare Behauptungen mit unbestreitbaren Fakten über die Schulmathematik und zieht daraus für einen Naturwissenschafter eigentlich bestürzende Schlussfolgerungen. Dass er in diesem Artikel – wie er selbst mehr oder weniger freimütig zugibt – sein eigenes "Mathematiktrauma" verarbeitet, macht die Sache nicht besser.

Kurt Kotrschal spricht davon, dass "die Mathematik zum zentralen Faktor für Schulerfolg wird", betrachtet das als Vernichtung von Lebenschancen und human resources, und empfiehlt Mathematik für die "Allgemeinheit" (80% der Schüler seiner Ansicht nach) auf das Beherrschen der Grundrechnungsarten zu reduzieren und die "höhere Mathematik" als Freigegenstand für "besonders Interessierte" (20% der Schüler seiner Ansicht nach) zu reservieren.

Ich bin entsetzt. Wie kann man als Naturwissenschafter im gegenwärtigen hochtechnisierten Zeitalter, wo Mathematik (fast) alles durchdringt, eine solche Empfehlung abgeben? Ich würde es natürlich auch als Vernichtung von Lebenschancen und human resources sehen, wenn die Mathematik zum zentralen Faktor für Schulerfolg wird. Aber ist es denn so? Da scheint mir irgendetwas entgangen zu sein.

Da Kotrschal Dinge grundsätzlich in Frage stellt, möchte ich in meiner Replik grundsätzlich beginnen. Kotrschal ist in "guter" Gesellschaft; schon 1999 formulierte der damalige Bildungs- und Wissenschaftsminister Frankreichs, Claude Allègre, seines Zeichens auch prominenter Geochemiker: "Die Mathematik ist gerade dabei, ihren Wert zu verlieren, geradezu unaufhaltsam. In Zukunft gibt es Maschinen, um Rechnungen durchzuführen." Was für ein blühender Unsinn! Das Gegenteil ist wahr: Ohne Mathematik geht heute überhaupt nichts. Jedes Mal, wenn wir ein Mobiltelefon in die Hand nehmen: da ist Mathematik drin (Kodieren und Dekodieren des Gesendeten zwecks störungsfreier Datenübertragung, nicht zu reden von der Mathematik, die im Verwalten und Koordinieren der Netze liegt). Jedes Mal, wenn wir im Internet unsere Bankgeschäfte oder Einkäufe erledigen: da ist Mathematik drin (Kryptographie zwecks sicherer Datenübertragung). Jedes Mal, wenn wir einen Routenplaner befragen: da ist Mathematik drin (Optimierung; Ermitteln des schnellsten/kürzesten Weges). Jedes Mal, wenn wir Flugkarten kaufen: da ist Mathematik drin (Optimierung; Ermitteln des besten Preises auf Seiten der Fluggesellschaft). Jedes Mal, wenn wir in ein Flugzeug steigen: da ist Mathematik drin (Routenberechnung, Treibstoffberechnung). Jedes Mal, wenn wir den Wetterbericht hören oder lesen: da ist Mathematik drin (Modelle zur Beschreibung komplexer Systeme). Jedes Mal, wenn es um Prognosen geht – wirtschaftlicher Entwicklungen, Wählerströme, usw.: da ist Mathematik drin (Statistik). Jedes Mal, wenn wir GPS betätigen, da ist Mathematik drin. Und, und, und. Ja, natürlich, wir benötigen Maschinen, Technik, aber dafür, dass Mathematik umgesetzt wird; ohne Mathematik sind all die Maschinen und die Technik nichts wert.

Trotz allem wird der Mathematik immer die Frage gestellt: "Zu wos brauch' ma des?" Und warum werden nur der Mathematik solche Fragen gestellt? Gegenfrage: Wozu muss ich wissen, dass Bogotá die Hauptstadt Kolumbiens ist? Warum wird diese Frage nie gestellt? Liegt es daran, dass Mathematik im Gegensatz zu anderen Wissensdisziplinen mit einer gewissen Abstraktion einher geht? (Es ist gerade die Abstraktion, die die Mathematik so universell einsetzbar macht.) Ich persönlich muss sicher nicht wissen, dass Bogotá die Hauptstadt Kolumbiens ist. Ich kann sehr gut ohne das leben. Ich würde trotzdem nie auf die Idee kommen, in Frage zu stellen, dass dies zur Schulbildung gehört, denn es handelt sich einfach um die falschen Fragen!

In der Diskussion wird systematisch darauf vergessen, dass wir hier von allgemein bildenden höheren Schulen reden (auch die berufsbildenden höheren Schulen sollen, neben dem jeweiligen Schwerpunkt, Allgemeinbildung vermitteln). Genauso, wie es zur Allgemeinbildung gehört, dass Bogotá die Hauptstadt von Kolumbien ist (auch wenn wir das vielleicht nicht immer parat haben sollten), gehören gewisse mathematische Fakten und Techniken zur Allgemeinbildung. Wie will man ein Verständnis für Bewegung, Flugbahnen, Wegstrecken entwickeln, ohne ein Grundwissen über Geometrie zu besitzen? Wie will man ein Verständnis für Geschwindigkeit, Beschleunigung und andere physikalische Gesetzmäßigkeiten entwickeln, ohne vom Differenzieren gehört zu haben? Wie will man ein Verständnis für Fläche, Volumen entwickeln, ohne vom Integrieren gehört zu haben? Wie will man ein Grundverständnis von statistischen Auswertungen ohne Wahrscheinlichkeit entwickeln? All dies ist Allgemeinbildung und gehört deswegen zu Recht zum Schulstoff.

Ich möchte nicht weiter kommentieren, wie sich die Vorschläge Kotrschals angesichts des Appells der TU-Wien-Mathematiker anhören, die bekanntlich das sinkende Niveau angehender Studierender angesprochen haben. Ich möchte das präzisieren: Ich würde nicht sagen, dass das Niveau sinkt, aber sehr wohl, dass die Kluft zwischen den Bestvorbereiteten und den Schlechtestvorbereiteten immer weiter auseinanderklafft. In dieser Situation sollen wir die "höhere Mathematik" (worunter der Autor scheinbar alles "jenseits" der Grundrechnungsarten versteht ...) den "besonders Interessierten" als Freifach überlassen? Da kann man dann nur noch Gute Nacht zum Technikland Österreich sagen. Das kann nicht ernst gemeint sein.

Man kann und muss die Mathematikstoffauswahl im Detail und die Art und Weise, wie Mathematik in der Schule präsentiert wird, immer weiterentwickeln. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass unsere Mathematiklehrerinnen und -lehrer hier ihr Bestes geben. Es liegt im Wesen der Sache, dass dies manchmal gelingt und manchmal leider nicht. Aber die Antwort darauf, dass es einmal nicht gelingt, kann nicht sein, die Mathematik quasi aus der Schule zu verdrängen. In der heutigen Zeit ist das genaue Gegenteil angebracht.

Ich habe vor einigen Tagen einen Maturanten gesprochen, der auf die schriftliche Mathematikprüfung ein Nichtgenügend erhielt, aber dann mit Hilfe der Kompensationsprüfung positiv abschloss. Ich habe ihn gefragt, ob die schriftliche Prüfung denn so schwer war. Seine Antwort: Die Art der Fragestellungen, das hätte ihn schon überrascht. Nachdem er sich nachher die Fragen in Ruhe angesehen hätte, muss er sagen: Nein, es war eigentlich nicht schwer. In diesem Sinne meine ich, dass mehr Gelassenheit und Vernunft in der Diskussion über Schulmathematik der Sache guttun würde.

P.S. am Rande: Kotrschals Behauptung, dass Musikausübung einen wesentlichen Beitrag zur Strukturierung von Gehirn und Denken leiste, ist grundfalsch. Im Gegensatz zu einigen beispielhaften Personen, die er anführt, um diese seine These zu belegen, war ich in einem früheren Leben ausübender Konzertmusiker (Pianist, der auch in Musikverein und Konzerthaus aufgetreten ist). Nein, Musikausübung leistet keinen wesentlichen Beitrag zur Strukturierung von Gehirn und Denken (aber selbstverständlich enorm viel für die geistige, emotionale, kulturelle und menschliche Persönlichkeitsbildung). Es ist die Mathematik, die wesentlich zur Strukturierung von Gehirn und Denken beiträgt!

Der Gastkommentar ist eine Replik auf den Beitrag "Die Maturakrise und das Mathematiktrauma in den Schulen" von Kurt Kotrschal, der am 3. Juli in "Die Presse" erschien.