Moleküle, Medikamente und der Weg dazwischen

Der Pharmazeut Thierry Langer entwickelt Computermethoden, um potentielle Arzneistoffe schneller und zielgerichteter designen zu können. Warum das ein erster Schritt in Richtung personalisierter Medizin ist und was er unter Medizin 4.0 versteht, erklärt er im Interview zur Semesterfrage.

uni:view: Sie entwickeln Computermethoden für "maßgeschneiderte" Moleküle. Beginnen wir also mit einer leicht veränderten Semesterfrage: Gesundheit aus dem "Computer" – was ist möglich?
Thierry Langer: Beim Thema Gesundheit muss man zwischen Prävention und Heilung unterscheiden. Computermethoden könnten präventiv eingesetzt werden, indem man beispielsweise über Big Data große Populationsstudien durchführt und untersucht, warum Krankheiten in bestimmten Gebieten auftreten und auf welche Faktoren – z.B. Lebensgewohnheiten – sie zurückzuführen sind. Uns hier am Department für Pharmazeutische Chemie geht es hingegen darum, Krankheiten zu heilen oder zumindest Symptome von Krankheiten zurückzudrängen, um die Lebensqualität zu verbessern.  

uni:view: Zu welchen Krankheiten forschen Sie konkret?
Langer: Ich leite zwei Gruppen: Eine arbeitet sehr theoretisch und entwickelt Algorithmen und Methoden, um am Computer neue Arzneistoffkandidaten besser und schneller designen zu können. Die andere Gruppe synthetisiert solche Moleküle – z.B. antivirale Wirkstoffe oder Antiepileptika –, die dann biochemisch auf ihre Wirkung getestet werden. Vor einiger Zeit haben wir für die Valerensäure, das ist ein Wirkstoff aus dem Baldrian, der unglaublich kompliziert in der Herstellung ist, ein neues Molekül designt. Dieses kann viel einfacher und schneller synthetisiert werden und wirkt auch als Antiepileptikum besser. Im Moment läuft die Patentvorbereitung.

uni:view: Welche Vorteile bringt die Medikamenten-Entwicklung am Computer?
Langer: Arzneistoffmoleküle können auf diese Weise schneller, billiger und zielgerichteter designt werden. Die Entwicklung eines Medikaments – von der Konzeption bis zur Markteinführung – dauert etwa 15 Jahre und kostet im Schnitt weit über eine Milliarde Euro. 80 Prozent dieses Geldes fließt in Versuche, die zu nichts führen. Wenn man also von Anfang an weiß, welches Molekül als Wirkstoff geeignet ist, kann man den gesamten Prozess mit 20 Prozent der Ressourcen schaffen. Man gewinnt Zeit und Geld. Und da bereits in der ersten Phase viele Moleküle ausgeschlossen werden, die früher noch an Tieren getestet worden wären, sind natürlich auch weniger Tierversuche nötig.

uni:view: Werden wir bald zur Gänze auf Tierversuche verzichten können?
Langer: Ganz darauf verzichten wird die Pharmaindustrie wohl nie – dieses Risiko wird niemand eingehen. Die Schönheitsindustrie greift zur Vorhersage von Toxizität und Nebenwirkungen mittlerweile auf alternative Methoden zurück, denn in Europa dürfen Kosmetika nicht mehr am Tier getestet werden. Doch Arzneistoffe wird man – anders als Cremes oder Lippenstifte, die ja auf die Haut aufgetragen und nicht injiziert oder geschluckt werden – nie direkt dem Menschen geben, bevor sie nicht am Tier getestet wurden.

uni:view: Was ist die Herausforderung bei dem Design von neuen Molekülen?
Langer: Bereits in einer frühen Phase zu erkennen, welches Molekül es "schaffen" wird. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Moleküle zu designen – mehr als es Materien im Universum gibt. Daher werden wir nie auch nur ein Molekül von jeder Kombination machen können. Es stellt sich also die Frage: Welches Molekül soll realisiert werden? Unsere Computermodelle helfen dabei, das möglichst intelligent und zielgerichtet herauszufinden.

uni:view: Geht das bereits in Richtung personalisierte Medizin?
Langer: Ja, vor allem in der Krebsforschung spielt die personalisierte Medizin eine immer größere Rolle – denn jeder Krebs ist anders. Wird z.B. ein Wirkstoff gegen eine bestimmte Krebsart entwickelt, identifiziert man zunächst jenes Protein, das ausgeschalten werden soll, unter der Annahme, dass das bei allen betroffenen PatientInnen helfen wird. Bei manchen PatientInnen wirkt das Medikament aber auf diesem einen Protein nicht, weil es beispielsweise eine Mutation aufweist. In hochentwickelten Kliniken werden die Tumore bereits heute sequenziert, um zu sehen, ob das entsprechende Protein Mutationen hat. Dann kann der Arzneistoff anhand von Computermethoden entsprechend modifiziert werden. Das Problem ist aber, dass der Krebs selbst immer wieder mutiert. Er ist eine Art "Organismus im Organismus", der um sein Überleben kämpft und leider viele Wege findet, um den behandelnden ÄrztInnen ein Schnäppchen zu schlagen.

uni:view: Wie verändert personalisierte Medizin die Pharmaindustrie?
Langer: Es wird zu einem Paradigmenwechsel kommen – und zwar weg von den sogenannten "Blockbustern". Die Pharmafirmen werden zwar nach wie vor umsatzstarke Medikamente brauchen, um zu überleben und ihre Forschung zu bezahlen. Aber durch die angesprochenen Computermethoden, kleinere Studien und selektierte PatientInnengruppen können die Entwicklungskosten stark reduziert werden, so dass auch Medikamente mit kleinem Marktanteil rentabel sind.


uni:view: Was verstehen Sie unter Medizin 4.0?

Langer: Die Kombination von medizinischen Apps mit einer – vielleicht nicht vollständigen – Gensequenzierung. Es gibt ja z.B. bereits das Neugeborenen-Screening: Jedes Baby wird auf bestimmte Parameter getestet, die auf Erberkrankungen oder metabolische Erkrankungen hinweisen. Ich finde, es spricht nichts dagegen, diesen Ansatz auszuweiten und beispielsweise Gensequenzierung flächendeckend zu machen – es kostet nicht viel in der Durchführung und das Gesundheitssystem könnte sich so viele Folgekosten sparen. Die Frage ist, wie mit den erhaltenen Daten umgegangen wird – absolute 'Privacy' wäre hier angebracht – und ob alle Menschen bereit sind, ihr Genom sequenzieren zu lassen.

uni:view: Ist die metabolische Profilierung, die einige ApothekerInnen durchführen, ein erster Schritt in diese Richtung?
Langer: Ja, aber das hat nichts mit einer Krankheit an sich zu tun, sondern damit, ob und wie Wirkstoffe im Körper verarbeitet werden und ob bestimmte Wechselwirkungen von Medikamenten auftreten können. Denn es gibt Medikamente, die bei manchen Menschen keine Wirkung zeigen, weil ihnen z.B. ein Enzym fehlt, um einen bestimmten metabolischen Schritt zu machen. Daher schaut man sich bei der metabolischen Profilierung die ca. 20 wichtigsten Enzyme einer Person an und weiß dann, wie ihr Metabolismus funktioniert. Wären diese Informationen z.B. auf der Gesundheitskarte oder in einer App gespeichert, wüsste der Apotheker oder die Apothekerin sofort, welche Medikamente für diese PatientInnen wirken und welche nicht. Das würde Kosten sparen und Therapien effizienter machen.

uni:view: Sie haben als pharmazeutischer Chemiker auch in der Privatwirtschaft Erfahrungen gesammelt. Was ist der Vorteil, an einer Universität zu forschen?
Langer: Natürlich die Freiheit, das zu tun, woran man glaubt. An der Universität entwickeln wir wissenschaftliche Methoden und freuen uns, wenn diese in der pharmazeutischen Industrie Anwendung finden oder wenn unsere Moleküle auslizenziert werden – aber es besteht keine Abhängigkeit. Die Medikamentenentwicklung selbst können wir natürlich finanziell nicht stemmen. Unter anderem deshalb haben wir die translationale Forschungsinitiative wings4innovation gegründet, in der insgesamt 17 österreichische Universitäten und Forschungseinrichtungen ihre Leistungen bündeln. Gemeinsam sind wir stärker und können z.B. Studien durchführen, die wir uns sonst nicht leisten könnten – und die sonst keiner machen würde, weil sich die Industrie nicht dafür interessiert. Auf diese Weise können wir der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

uni:view: Danke für das spannende Gespräch! (ps)

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Sommersemester 2017 lautet "Gesundheit aus dem Labor – was ist möglich?". Zur Semesterfrage

Mehr über Thierry Langer:
Thierry Langer ist seit Oktober 2013 Professor für Pharmazeutische Chemie am Department für Pharmazeutische Chemie der Universität Wien, das er auch leitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind Entwicklung von wissenschaftlicher Software für pharmakophorbasiertes Modeling und in silico Screening, computerunterstütztes Wirkstoffdesign, Leitstrukturfindung und Optimierung.