Bildungssystem

Mitreden: Sprache und gesellschaftliche Teilhabe

19. Mai 2020 Gastbeitrag von Hannes Schweiger
Damit Schüler*innen in unserem selektiven Bildungssystem "nicht auf der Strecke bleiben", setzt sich Germanist Hannes Schweiger für eine differenzfreundliche Schule ein. Warum Sprache dabei eine wesentliche Rolle spielt, erklärt er in seinem Gastbeitrag zur aktuellen Semesterfrage.
"Sprache wirkt, indem sie Zugänge schafft": Germanist Hannes Schweiger beschäftigt sich mit Sprache und gesellschaftlicher Teilhabe im Schulkontext. © Pixabay/markusspiske

Sprache wirkt, indem sie Unterschiede schafft und Menschen in Gruppen teilt. So ist etwa in der Schule mitunter von "Kindern mit Sprachdefiziten" die Rede, die die Bildungs- und Unterrichtssprache Deutsch erst im Begriff sind zu lernen. Für sie ist in Österreich derzeit der Besuch von Deutschförderklassen oder Deutschförderkursen vorgesehen, sofern ihre Deutschkenntnisse bei einem entsprechenden Test (MIKA-D) als "mangelhaft" oder "unzureichend" eingestuft werden. 

Doch warum ist von Sprachdefiziten die Rede, wenn es doch um das Deutschlernen geht? Durch diese Formulierung entsteht der Eindruck, diese Kinder würden in keiner Sprache über altersadäquate sprachliche Fähigkeiten verfügen – das wissen wir aber gar nicht, denn im österreichischen Schulsystem werden die Kenntnisse in ihren Erstsprachen nicht systematisch berücksichtigt oder überprüft. Der Fokus ist auf Deutsch und das Erlernen der deutschen Sprache gerichtet. Was sie in anderen Sprachen als Deutsch mitbringen, tritt in den Hintergrund.

Warum ist der Blick auf die Defizite gerichtet?

In der Sprachdiagnostik geht es vielmehr darum, Lernpotenziale zu ermitteln. Viele Lehrer*innen machen genau dies: Sie schauen im Sinne einer Förderdiagnostik auf den individuellen Lernstand der Kinder, eruieren die Bereiche, in denen es Lernpotenzial gibt und versuchen sie entsprechend zu fördern – mit dem Ziel, das Kind bei seinem Schritt in die nächste Zone der Entwicklung zu begleiten und zu unterstützen. Im österreichischen Bildungssystem dominiert hingegen eine Zuteilungsdiagnostik: Kinder werden eingeteilt in solche mit und ohne 'Sprachdefizite'.

Hannes Schweiger: Durch Sprache teilhaben

Ausbildung für eine sprachen- und differenzfreundliche Schule

Wir brauchen im Sinne einer kindgerechten, inklusiven, differenzfreundlichen und diskriminierungskritischen Schule zum einen andere Maßnahmen und Gesetze als die derzeit in Kraft befindlichen. Wir brauchen überdies andere Begriffe, um defizitorientiertes Denken nicht zu reproduzieren und um eine sprachenfreundliche offene Schule zu gestalten. Dafür brauchen wir auch Lehrer*innen, die entsprechend ausgebildet sind.

Teil dieser Ausbildung ist ein kritisches Nachdenken über die Wirkungen von Sprache in pädagogischen Zusammenhängen. Zeigen lässt sich dies etwa daran, wie über Vielfalt gesprochen wird. Es fallen Sätze wie: "In dieser Klasse gibt es zwölf Nationalitäten." Oder: "In der 5E sitzt nur ein österreichisches Kind." Oder es ist die Rede von "Kindern mit Migrationshintergrund" oder von "DaZ-Kindern". Mit diesen Formulierungen werden unterschiedliche Merkmale hervorgehoben, sie lösen Zuschreibungen aus, können abwertend oder diskriminierend wirken und schaffen jedenfalls Unterschiede – Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen bestehen und es ist wichtig, sie zu thematisieren. Entscheidend ist dabei aber auch, welche Begriffe wir verwenden und wie diese Begriffe wirken, vor allem auf jene, die sie bezeichnen.

Sprache und Teilhabe

Sprache wirkt, indem sie Zugänge schafft. Insbesondere Kindern und Jugendlichen, die Deutschförderklassen besuchen, hat in der Coronakrise der Zugang zur deutschen Sprache in der Form, wie sie ihn für erfolgreiches Deutschlernen brauchen würden, oft gefehlt. Ihre Sprachvorbilder, die für das Erlernen der deutschen Sprache so wichtig sind, konnten nur auf Distanz und über den Bildschirm für sie da sein. Dadurch verstärkt sich Bildungsbenachteiligung, von der gerade diese Schüler*innen in besonders hohem Maße betroffen sind, wie die Forschung immer wieder zeigt. Umso wichtiger ist es, für sie Erleichterungen zu schaffen und zusätzliche Unterstützung anzubieten – damit sie in unserem sehr selektiven Bildungssystem nicht auf der Strecke bleiben.

Aus der Forschung und der schulischen Praxis kennen wir wichtige Eckpunkte für eine zielführende und nachhaltige Sprachenförderung: Möglichst kleine Lerngruppen, die Verschränkung von sprachlichem und fachlichem Lernen, die Berücksichtigung der alltagsweltlichen Mehrsprachigkeit, sprachensensible Lehrkräfte mit hoher Kompetenz in der Sprachförderung und eine Schule, in der sprachliche Bildung als Aufgabe aller Lehrer*innen begriffen und im Team gestaltet wird. So kann Sprachenförderung gelingen, die die Chance auf Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe erhöht.

Foto eines Sessels mit der Aufschrift 'JANDLN'
Ein Wort, das wirkt: Jandln ist ein Verb, das nicht im Wörterbuch steht. Und doch wissen wir, was es bedeutet, wenn wir Gedichte von Ernst Jandl kennen (lernen). Wenn wir Jandln, erweitern wir die deutsche Sprache und setzen uns mit sprachlichen Normen auseinander und über sie hinweg. Jandln steht für einen kreativen und lustvollen Umgang mit Sprache. Jandln wirkt aber auch selbstermächtigend und führt vor, was ich alles mit Sprache machen kann, unabhängig davon, ob ich eine Sprache erst zu lernen beginne oder in ihr schon ein ganzes Leben lang wohne. Zu den Ergebnissen eines Lyrikwettbewerbs für Schüler*innen: "Heute schon geJANDLt?" © Hannes Schweiger

Erweiterter Handlungsspielraum

Sprache schafft Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft – sie ist nicht der Schlüssel, der alle Türen aufsperrt, aber sie erweitert den eigenen Handlungsspielraum, der freilich auch von vielen anderen Faktoren bestimmt wird (z.B. von der ökonomischen Situation, vom sozialen Umfeld, vom Bildungshintergrund oder vom Wahlrecht). Aufgabe von Bildungsinstitutionen ist es, Menschen dabei zu unterstützen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern, z.B. durch die Begleitung beim Erlernen einer neuen Sprache, sei es die dominante Bildungssprache Deutsch, sei es eine weitere Fremdsprache. 

Sprache wirkt, wenn wir sie wirkungsvoll einsetzen können, auch und gerade dann, wenn es darum geht, Bildungsbenachteiligung anzusprechen, ihr entgegenzuwirken und für alle Menschen mehr Möglichkeiten zur Teilhabe zu schaffen – um mitreden zu können und gehört zu werden.

© Petra Schiefer
© Petra Schiefer
Hannes Schweiger ist Assistenzprofessor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache am Institut für Germanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie am Zentrum für Lehrer*innenbildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. kulturreflexives Lehren und Lernen, rassismuskritische Bildung sowie Literatur und Migration.

Mit Blick auf die aktuelle Diskussion zur Deutschförderung in der Schule geht er der Frage nach, wie gesellschaftliche Teilhabe durch sprachliche und kulturelle Bildung erreicht werden kann.