Ist Gerechtigkeit maskulin?

"Wir stellen die Fragen" lautet das Motto im 650-Jahr-Jubiläm der Universität Wien. Im Interview mit uni:view spricht Philosophin Herlinde Pauer-Studer über Gerechtigkeit, geschlechterspezifische Ungleichheiten und Forschungskontexte, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.

uni:view: Frau Prof. Pauer-Studer, Sie haben in Ihrer Forschung u.a. klassische philosophische Moraltheorien, wie etwa Theorien der Gerechtigkeit, auf geschlechterspezifische Ungleichheiten abgeklopft …
Herlinde Pauer-Studer:
In der Philosophie wurde der Genderkontext bis Ende des 20. Jahrhunderts nie thematisiert, aber von den Philosophen implizit mitgedacht: Sie haben ihre Konzeptionen der Gerechtigkeit und Rechtfertigungen von politischer Macht immer in den Begrifflichkeiten "des Bürgers" formuliert. Beispielsweise wurde die Frage der Legitimierung politischer Autorität nie aus der Perspektive "der Bürgerin" thematisiert.

Das ist ein Faden, der sich durch die gesamte Philosophiegeschichte zieht. Erst ab dem Ende des 20. Jahrhunderts war es Philosophinnen möglich, zu studieren und sich beruflich zu etablieren. Sie haben dann die Klassiker neu gelesen und Theorien der Gerechtigkeit im Hinblick auf die geschlechterspezifische Ungleichheit und Ausgrenzung beleuchtet. Interessiert haben mich insbesondere die Klassiker der politischen Philosophie und der Moralphilosophie der Neuzeit und der Aufklärung, also Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, David Hume und Immanuel Kant. Mein Forschungsinteresse war, den Gender Bias in deren Konzeptionen der Moral und eines politischen Gemeinwesens aufzuzeigen.


uni:view: Worauf soll die Frage "Ist Gerechtigkeit maskulin?" aufmerksam machen?
Pauer-Studer: Genau genommen verwendet man die Termini "maskulin"/"feminin" in der Genderforschung nicht mehr. Und das mit gutem Grund: Diese Begrifflichkeiten sind mit Stereotypen verbunden, die man ja in der Form – sowohl philosophisch, als auch methodologisch – überwinden möchte. Es geht vielmehr darum, die Gendersymbolik dahinter strukturell zu erfassen. Wenn wir die Begriffe "männlich" und "weiblich" unkritisch verwenden, haben wir das Problem, dass wir implizit die Stereotype wieder verstärken. Daher wird heutzutage eher vom "Genderkontext" gesprochen. Mit der provokativen Frage "Ist Gerechtigkeit maskulin?" soll das Problem der geschlechterspezifischen Benachteiligung und Diskriminierung transparent werden.

Videoantwort von Herlinde Pauer-Studer

Philosophin Herlinde Pauer-Studer spricht im Video über Gerechtigkeit, geschlechterspezifische Ungleichheiten und Forschungskontexte, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.


uni:view: Haben sich die Antworten auf diese Frage im Laufe der Zeit verändert?
Pauer-Studer: Das Ende des 20. Jahrhunderts war entscheidend, da Philosophinnen – aber auch Wissenschafterinnen aus anderen Disziplinen – realisiert haben, dass es einen impliziten Gender Bias gibt. Die Geschichte der Philosophie wurde dekonstruiert und auf diese Schieflagen hin überprüft. Auch in der Genderforschung selbst gab es Entwicklungen. Hierzu vielleicht ein Beispiel aus der Moralpsychologie: Lawrence Kohlberg führte eine auf 30 Jahre angelegte Längsschnittstudie zur Moralentwicklung bei Kleinkindern durch. Den Kindern wurde ein moralisches Dilemma vorgeführt, so zum Beispiel: Soll ein Mann ein Medikament stehlen, damit er seiner kranken Frau helfen kann? Die Antworten der Kinder hat er entlang eines Stufenschemas der Moralentwicklung untersucht: Der höchste Reifegrad war Kant, eine Stufe niedriger der Utilitarismus, darunter Tugend- und Fürsorgeethiken. Den Ergebnissen zu Folge haben nur die männlichen Probanden die höchste Stufe der moralischen Reife erreicht. "Ungeschaut" war das Resultat also, dass die männlichen Kinder ein kognitiv höher entwickeltes Moralbewusstsein haben als die weiblichen Kinder.

uni:view: Und "angeschaut"?

Pauer-Studer:
Einer Mitarbeiterin von Kohlberg, Carol Gilligan, kam dieses Ergebnis merkwürdig vor und sie hat sich nochmals die Antworten angeschaut. Sie hat dann bemerkt, dass die Mädchen eher zu einer Fürsorgeethik tendieren und einen komplett anderen Lösungsansatz wählten und das Problem eher kontextuell lösten, dadurch aber nicht moralisch weniger entwickelt waren. Gilligan wurde oft so rezipiert, dass es eine "männliche Ethik" – eine Ethik nach Prinzipien und Rechten entlang des Kant'schen Paradigmas – und eine "weibliche Ethik" – eine kontextbezogene Ethik des "Caring" – gäbe. Mit "männlich" und "weiblich" hat das aber nicht viel zu tun. Es geht vielmehr um die Projektion verfestigter sozialer Kategorien. Solche Stereotype entstehen aufgrund unreflektierter sozialer Rollenverständnisse – und genau diese hat Kohlberg in seiner Moralpsychologie unkritisch übernommen und reproduziert.

Welche normativen Grundlagen hat ein Justizsystem, das Millionen Menschen in den Tod schickt? Ein internationales Team rund um die Philosophin und ERC-Grant-Preisträgerin Herlinde Pauer-Studer wagt den Blick in die Tiefen des NS-Unrechtsdenkens und fördert dabei neue Erkenntnisse zu Tage.

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uni:view: Was lässt sich aus diesem Beispiel ableiten?

Pauer-Studer:
Wenn man unkritisch mit Daten umgeht, kommt man zu vorschnellen Ergebnissen, die einfach nicht stimmen. Übertragen auf das Problem der sozialen Gerechtigkeit bedeutet dies, dass man immer auch die strukturellen Hintergrundbedingungen analysieren muss. Es muss hinterfragt werden, welche Parameter der Gerechtigkeit die richtigen sind, um den jeweiligen Lebenskontext zu erfassen.

uni:view: Andernfalls?

Pauer-Studer:
Andernfalls ergibt sich kein differenziertes Bild von Gleichheiten und Ungleichheiten. Das gilt für viele Themen: In meiner Habilitationsschrift habe ich klassische Moraltheorien auf einen impliziten Gender Bias hin untersucht. Im Moment hingegen forsche ich im Rahmen des ERC-Research Grants zu den normativen Transformationen im Rechtssystem des Dritten Reichs.
Dies ist eine Frage, die nicht nur für das Selbstverständnis der österreichischen Gesellschaft relevant und wichtig ist, sondern das Problem aufgreift, wie sich Demokratien und Rechtsstaaten normativ definieren und wie sie einer Erosion ihrer grundlegenden Werte und Prinzipien durch autoritär-totalitäre Bewegungen und Ideologien effektiv zu begegnen vermögen.

uni:view: Was wünschen Sie der Universität Wien zum 650-Jahr-Jubiläum?

Pauer-Studer: Alles Gute und eine erfolgreiche Zukunft!

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!

Über Herlinde Pauer-Studer:

Herlinde Pauer-Studer ist Professorin für Analytische Philosophie. Fragen sind für sie Energiequellen für gesellschaftliche Veränderung. Für die Philosophin gibt es sowohl theoretisch als auch praktisch noch sehr viel Arbeit und viele Projekte zu bewältigen, um sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu begegnen. Für ihre Grundlagenforschung hat sie als Vertreterin der Geisteswissenschaften von der EU den prestigeträchtigen ERC Advanced Grant erhalten.

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Unter den WissenschafterInnen der Universität Wien aller Epochen gibt es große Vorbilder, die dazu ermutigen, Fragen zu stellen und mit den Antworten die Welt zu verändern. Sieben ForscherInnen der Universität Wien erzählen uns stellvertretend von ihrer persönlichen Antwortsuche.

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