Buchtipp des Monats von Marianne Klemun

Die Historikerin Marianne Klemun beschäftigt sich in einem Sammelband mit dem österreichischen Ausnahme-Naturforscher Franz Unger – der noch vor Darwin ein eigenes Modell der Evolution entwickelt und Gregor Mendel beeinflusst hat. Einen spannenden Sommer-Buchtipp hat sie natürlich auch parat.

uni:view: Kürzlich erschien die von Ihnen herausgegebene Publikation "Einheit und Vielfalt. Franz Ungers (1800-1870) Konzepte der Naturforschung im internationalen Kontext". Wie ist die Idee zum Buch entstanden?
Marianne Klemun: In meinem Forschungsbereich, der Wissenschaftsgeschichte, existiert noch immer der Trend, dass hauptsächlich auf große Namen gesetzt wird. Beispielsweise im Bereich Evolutionsdenken auf Charles Darwin – was wir als "Darwin-Industrie" bezeichnen. Dieser Tendenz will ich entgegenwirken. An Franz Unger faszinierten mich zunächst die unterschiedlichen Veranschaulichungsprojekte: Er nahm sich z.B. als Paläontologe vor, die Perioden der Erdgeschichte zu visualisieren. Solche Rekonstruktionen sind uns heute geläufig, jedoch gab es sie vor Unger noch nicht.

uni:view: Im Klappentext schreiben Sie, dass Unger oft als "österreichischer Darwin" bezeichnet wird …
Klemun:
Die vor Jahren aufgekommene Bezeichnung "österreichischer Darwin" bzw. "steirischer Darwin" (im Museum Joanneum in Graz) war wohl gut gemeint, ich lehne sie jedoch ab. Sie ist aus mehrfachen Gründen problematisch: Unger hatte zeitlich vor Darwin ein eigenes Modell der Evolution entwickelt. Außerdem gingen Ungers Ansätze weit über die eines solitär evolutionären Denkens hinaus – Anlass genug, sich dieser unterschiedlichen wissenschaftlichen Konzepte als auch der Praktiken reflektiert anzunehmen.

uni:view: Franz Unger war in unterschiedlichen Wissensfeldern tätig.
Klemun:
Das weite Spektrum reicht von seiner Begründung der Pflanzenökologie über die frühe Anatomie bis hin zur Zellforschung – und mit dem Mikroskopie-Verfahren auch zur Einführung der Physiologie an der Universität Wien. Besonders ist auch das vielfältige Methodenrepertoire, das Ungers Arbeiten auszeichnete: so etwa seine Dünnschlifftechnik bei der Aufbereitung der Pflanzenfossilien und die statistische Auswertung von weltweiten Pflanzenverteilungen. Romantische Analogien wie auch experimentelle Zugänge, oft als unvereinbar bewertet, werden beide als bestimmend für die kreativen Wege Ungers gesehen. Das Evolutionsdenken ist vielen der Arbeiten eingeschrieben, und wie seine Zelltheorie werden beide im Laufe der Zeit konzeptuell verändert, sind somit selbst mehr einer evolutionären und keiner statischen Haltung verpflichtet.

uni:view: Ist aus diesem Grund ein Sammelband mit Aufsätzen WissenschafterInnen ganz unterschiedlicher Disziplinen und Perspektiven auf Franz Unger entstanden?
Klemun: Der Vielfalt an Ansätzen eines Unger kann ebenfalls nur mit Multidisziplinarität auf wissenschaftshistorischer Ebene entsprochen werden. Zugriffe aus der Bildwissenschaft, Diskursanalyse und Evidenzforschung zählen dazu. Es ging mir um die Einordnung von Ungers Konzepten im Lichte der internationalen Forschung seiner Zeit. Ich habe ExpertInnen gewinnen können, die Ungers Arbeiten zwar kannten, aber seine Bedeutung erst durch die intensivere Beschäftigung zu schätzen lernten. So konnte etwa nun gezeigt werden, dass es Unger war, der mit seiner Methode der Kombinatorik und Anwendung von statistischen Verfahren auf die Pflanzenwelt seinem Studenten Gregor Mendel ein Werkzeug in die Hand gab, mit dem dieser die Mendel‘schen Regeln formulieren konnte. Wichtig ist aber auch der Blick auf Mythen, Kategorien der Historizität, Bezüge zur Literatur, die aus germanistischer Perspektive neue Schichten seines Werkes freilegen.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1x "Einheit und Vielfalt. Franz Ungers (1800–1870) Konzepte der Naturforschung im internationalen Kontext", herausgegeben von Marianne Klemun
1x "Reisen ins Unterirdische. Eine Kulturgeschichte der Höhlenforschung in Österreich bis in die Zwischenkriegszeit" von Johannes Mattes

uni:view: Und nun zu Ihrem persönlichen Sommer-Buchtipp für unsere LeserInnen.
Klemun: Ich empfehle das Buch des Historikers und Höhlenforschers Johannes Mattes, mit dem Titel "Reisen ins Unterirdische. Eine Kulturgeschichte der Höhlenforschung in Österreich bis zur Zwischenkriegszeit".

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Klemun: Dieses Buch widmet sich einem Raum, der Höhle, die auf viele andere Orte verweist und somit nicht an der Peripherie des Wissens, sondern in die Tiefe von Bedeutungen und ins Zentrum der Kultur führt. Imaginationen und Sehnsüchte sind mit ihr verbunden, Reisen im Kopf und in der Realität werden an ihr ausgelebt, Spiritualität und die Grenze zur Erkenntnis ausgelotet. Mit ihrer Eroberung ist die Frage der Innerlichkeit und Erbauung obsolet und Nationalismus sowie Imperialismus sind ihr immanent. Das Buch schlägt einen spannenden zeitlichen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Klemun: Beim Stichwort "Höhle" stellt sich eine unglaubliche Fülle an Konnotationen ein. Mir blieb schon der erste Satz des Buches im Gedächtnis: "Auf Abwegen in die Tiefe, zu verborgenen, zauberhaften Orten der Nacht, begibt man sich niemals alleine." (td)

Marianne Klemun ist am Institut für Geschichte der Universität Wien tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Naturforschung im kulturellen Kontext, Wissenschaftsgeschichte und Kulturwissenschaften, Geschichte und Kultur der Naturgeschichte.