80.000 Flüchtlinge? Das ist zu bewältigen

Das Research Network on Diversity, Education and Social Cohesion von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien besuchte das größte Lager für syrische Geflüchtete in Jordanien. Wolfram Reiss war mit dabei und berichtet für uni:view vom Lageralltag, Herausforderungen und guten Lösungen.

Im November 2018 fand eine Tagung des Forschungsnetzwerks Diversity, Education and Social Cohesion (DESC) in Jordanien unter Leitung von Viola Raheb von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien statt. 16 internationale ErziehungsexspertInnen aus Forschung und Praxis diskutierten über Maßnahmen und Projekte zur Verbesserung der Integration von Flüchtlingen.

Darüber hinaus unternahmen die TagungsteilnehmerInnen field visits in ein Flüchtlingslager und besuchten eine Schule im Norden Jordaniens, unweit der syrischen Grenze. Insbesondere der Besuch in dem Flüchtlingslager Za'tari und das Gespräch mit dem Bürgermeister der Region (der auch zur 6. BürgermeisterInnenkonferenz im Januar nach Wien kommen wird) war interessant. Bis 2011 war der Bürgermeister für einen Gemeindeverband von mehreren Dörfern mit ca. 30.000 EinwohnerInnen zuständig. Aufgrund der Unruhen in Syrien, die in Darʿā begannen, einem Ort, der nur wenige Kilometer jenseits der Grenze liegt, flüchteten 2011 und 2012 viele SyrerInnen über die Grenze.

Rapider Bevölkerungszuwachs

Zunächst wurden viele privat untergebracht, aber die Zahl der Flüchtlinge stieg so rapide an, dass ab 2012 Zelte aufgebaut werden mussten. In den Hochzeiten überquerten zwischen 2.000 bis 5.000 Flüchtlinge täglich die Grenze und mussten versorgt werden. Ein Zeltlager entstand, das unter die Leitung des UNHCR gestellt wurde. Durch das Lager verdreifachte sich die Anzahl der BewohnerInnen im Gemeindegebiet Umm al-Jamal  innerhalb von kürzester Zeit. Zeitweise waren bis zu 120.000 Flüchtlinge im Camp.

Insgesamt gibt es gegenwärtig 655.000 Flüchtlinge in Jordanien (Zahlen nach UNHCR, die der Regierung sind noch höher), von denen nur 20 Prozent in drei Lagern leben. Das Za'tari Camp ist noch immer das größte mit ca. 80.000 Personen. Außerhalb des Lagers sind ca. 15.000 neue syrische BürgerInnen in den umliegenden Dörfern des Gemeindegebiets untergekommen. Dies alles veränderte die Rahmenbedingungen des Gemeindegebiets völlig und verursachte insbesondere in der Anfangszeit auch erhebliche logistische Probleme: Schnellstens mussten Brunnen gebohrt, Transportwege geschaffen, Elektrizität bereitgestellt und das Müllproblem bewältigt werden. Die karge Region war nicht auf solch einen rapiden Bevölkerungszuwachs vorbereitet.

Vom Zelt zum Wohncontainer

Längerfristig musste dann auch eine städtische Infrastruktur mit Transportwegen, Geschäften, einer Lagerpolizei, Community Centers mit Freizeitmöglichkeiten und Schulen für Kinder geschaffen werden. Mittlerweile ist all das errichtet worden. Es gibt zwei Krankenhäuser und zwölf Health Care Centers, die die primäre Gesundheitsversorgung garantieren. Es gibt 13 Moscheen. Fast alle Flüchtlinge im Lager sind MuslimInnen. AlawitInnen und ChristInnen sind eher in den Libanon geflüchtet. Und wenn Nicht-MuslimInnen nach Jordanien kamen, hatten sie meist Kontakte zu Personen in den Städten und wurden dort integriert. Aus den Zelten sind mittlerweile feste Wohncontainer geworden, die teilweise auch noch individuell durch Höfe mit Wellblech erweitert wurden, um einen privaten Raum zu schaffen.


Die Preise in den Geschäften im Lager sind sogar etwas günstiger als außerhalb, weil keine Mieten für die Läden bezahlt und Steuern erhoben werden. (© privat)   

Handel und Arbeit
 
Die Flüchtlinge eröffneten ca. 3.000 kleine Läden, in denen man die alltäglichen Dinge einkaufen kann. Die BewohnerInnen erhalten monatlich 20 Jordanische Dinar (ca. 25 Euro), mit denen subventionierte Grundnahrungsmittel eingekauft werden können. 5.000 Personen arbeiten innerhalb des Camps unter anderem auch bei den 45 Organisationen (UN-Agencies, NGOs, INGOs), die hier tätig sind. Darüber hinaus gibt es ca. 11.000 BewohnerInnen des Lagers, die außerhalb Jobs gefunden haben. Sie müssen zwar einen Antrag stellen, wenn sie das Lager verlassen, das werde aber problemlos bis zu einem Monat Abwesenheit gewährt.

Schule und Unterricht

Mittlerweile sind auch 32 Schulen im Camp, die von 20.000 Kindern besucht werden. Unterrichtet wird im Schichtbetrieb, morgens die Mädchen und nachmittags die Jungen. Höherer Schulbildung und Studium kann außerhalb des Camps nachgegangen werden. Hierfür gibt es Stipendien. Die Zahl der SchulabbrecherInnen ist erstaunlicherweise sogar etwas geringer als in der jordanischen Bevölkerung. Es wird nach dem jordanischen Curriculum unterrichtet.

Kriminalität im "normalen" Bereich

Es gab zwar Konflikte und Kriminalität im Lager, aber der Lagerkommandant betonte sehr stark, dass sich das durchaus im Rahmen der Probleme bewege – wie es in Städten mit ähnlicher Größe eben auch vorkommt. Ein Problem sei anfangs allerdings gewesen, dass viele SyrerInnen aufgrund ihrer Erfahrungen in Syrien in allen Uniformierten automatisch Gegner der Bevölkerung sahen. Erst allmählich habe man verstanden, dass es der jordanischen Polizei nur darum ging, die Ordnung aufrecht zu erhalten, der Kriminalität zu wehren und bei Konflikten zu vermitteln. (Der Offizier verschwieg dabei, dass es 2014 zu Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Flüchtlingen im Lager kam, bei denen ein Flüchtling getötet wurde und es Verletzte auf beiden Seiten gab).  

Verweildauer im Schnitt fünf Jahre

Das Lager ist einfach, aber die Infrastruktur ist gut. Es ist erstaunlich sauber und alles scheint geordnet. Dennoch bleibt es natürlich ein Lager mit vielen Einschränkungen. Es gibt maximal von 17 bis 5 Uhr Elektrizität (sofern man nicht individuell eine kleine Solaranlage installiert hat, was mittlerweile bei vielen Containern zu sehen ist). Das Wasser wird rationiert (35 Liter pro Tag und Person). Ebenso werden Grundnahrungsmittel rationiert vergeben. Jeder Ein- und Ausgang aus dem Lager wird kontrolliert und natürlich lebt man auf engstem Raum zusammen. Die durchschnittliche Verweilzeit im Lager beträgt daher nur ca. fünf Jahre. Die meisten Flüchtlinge würden gerne wieder zurück in ihre Heimat gehen, befürchten aber, dass es möglicherweise noch Jahre dauern könnte, bis politische Stabilität herrscht, Sicherheit gegeben ist und die öffentlichen Dienste in Syrien wieder funktionieren.

Vorteile für die Region

Der Bürgermeister betonte, dass es  durch die Ansiedlung des Flüchtlingscamps für die Bevölkerung erhebliche Veränderungen und Probleme gegeben hätte. Die Kosten für Mieten, Immobilien und Lebensmittel stiegen erheblich. Es gab ein großes Problem mit dem Müll. Aber durch die Ansiedlung des Flüchtlingscamps und durch das Drängen des Bürgermeisters, der darauf bestand, dass neben den Flüchtlingen auch die lokale Bevölkerung von den internationalen Mitteln profitiert, wurden auch die Infrastrukturen insgesamt verbessert. So wurden z.B. zahlreiche Straßen gebaut, Brunnen gebohrt und die Versorgung mit Elektrizität und Telekommunikationsstruktur verbessert, der Handel nahm einen Aufschwung, das Erziehungssystem und die Gesundheitsversorgung konnten verbessert werden – in einem Gebiet, das bis jetzt eher am Rande lag.

Gemeinsame Projekte

Man versucht durch gemeinsame Aktionen den Austausch zwischen SyrerInnen und JordanierInnen zu fördern und die Region gemeinsam zu entwickeln. Z.B. gibt es momentan ein Projekt, in dem gemeinsam Müll gesammelt und recycelt wird, ein Projekt um die Überschwemmungsgefahr zu mindern sowie ein archäologisches Projekt, bei dem SyrerInnen und JordanierInnen gemeinsam beteiligt sind. Ebenso ist es üblich, dass man während des Ramadan sowohl im Camp als auch in den umliegenden Dörfern zu gemeinsamen Iftar-Feiern einlädt, um den Zusammenhalt der syrischen und jordanischen BürgerInnen zu fördern.

Von Jordanien lernen

Diese Schilderungen waren doch sehr ermutigend und erfreulich. Kein Wort davon, dass hier eine Region von syrischen Flüchtlingen "überflutet" wurde oder dass die Integration nicht geleistet werden könne. Der gewaltige Zustrom bzw. die Ansiedlung von 80.000 syrischen Flüchtlingen stellte zwar die ländliche Region vor logistische Probleme, die aber aus Sicht des Bürgermeisters zu meistern sind und letztlich sogar positiv gedeutet werden – als eine Möglichkeit, die gesamte Region weiter zu entwickeln. Angesichts dieser Einstellung relativiert sich doch erheblich die Problemlage von einigen wenigen Flüchtlingen in Kommunen, die hier in Europa oft als kaum zu bewältigend beschrieben wird. Freilich ist natürlich bei einem Vergleich zu berücksichtigen, dass dabei sprachliche, kulturelle oder religiöse Differenzen kaum eine Rolle spielen.

Wolfram Reiss ist Universitätsprofessor für Religionswissenschaft und Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a. Islam, Orientalisches Christentum, Judentum, Ägyptische Religion; Schulbuchforschung und Curriculumsrevision zur Darstellung anderer Kulturen und Religionen in Europa und in der islamisch-arabischen Welt; Herausforderungen für Institutionen und Religionsgemeinschaften durch die Migration. (© Universität Wien)   

Die Reise und alle Aktivitäten werden finanziert durch Act.Now, einer privaten Organisation, die ForscherInnen und PraktikerInnen zusammenzubringt. Die Aktivitäten des Forschungsnetzwerkes  Diversität, Erziehung und sozialer Zusammenhalt werden unter Leitung von Viola Raheb, Universitätsassistentin für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Kooperation mit Act Now, durchgeführt.