8.000 Laufmeter Erinnerung

Thomas Maisel leitet das Archiv der Universität Wien. Im univie-Interview erzählt der Historiker, welche Stücke zum Gedächtnis der Universität zählen und warum das Wiederfinden oft die größere Herausforderung ist als das Aufbewahren.

univie: Wir befinden uns hier an einem geschichtsträchtigen Ort, was war hier früher?
Thomas Maisel: Das war die alte Universität, wie sie unter der Ägide des Jesuitenordens ab 1623/24 errichtet wurde. Dieser Teil, wo wir gerade sind, war Teil der alten Universitätsbibliothek.

univie: Wo war die Universität davor?
Maisel: Die in der Gründungsurkunde von Rudolf dem Vierten erwähnte "Pfaffenstadt" als eigenes, durch eine Mauer abgetrenntes Universitätsviertel wurde nie verwirklicht. Bereits einige Monate nach der Gründung verstarb der nur 26 Jahre junge Herzog. Anfangs nutzte man die Räume der Bürgerschule von St. Stephan. Erst ab 1385 besaß die Universität mit dem Herzogskolleg ein eigenes Gebäude.

univie: Seit wann gibt es das Archiv der Uni Wien und wie hat sich sein Auftrag verändert?
Maisel: Die ersten Spuren reichen sehr weit zurück. Einer meiner Amtsvorgänger beschrieb eine eisenbeschlagene Truhe aus dem Jahr 1388, also schon bald nach der Gründung, in der die beiden Gründungsurkunden, Insignien und Geldbeträge aufbewahrt wurden, als erstes Universitätsarchiv. Die Aufgaben waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in erster Linie rechtssichernde, also die sichere Verwahrung von Urkunden und Dokumenten, die bestimmte Rechte, Privilegien und Ansprüche belegen sollten.

univie: Was hat das Uni-Archiv heute zu leisten?
Maisel: Die Aufgabe besteht darin, die historische Überlieferung der Uni Wien sicherzustellen. In erster Linie ist das Kerngeschäft seit dem 19. Jahrhundert die Verwaltungsunterlagen der Universität, die als archivwürdig bewertet werden, dauerhaft aufzubewahren und für die historische Forschung zugänglich zu machen.

univie: Wie entscheidet man, was aufbewahrt werden soll?
Maisel: Das ist eine schwierige Sache, aber es gibt bestimmte Richtlinien. Die Frage ist, ob die  Unterlagen wirklich einzigartig sind, ob sie typisch für eine bestimmte Institution und für die künftige historische Forschung von Interesse sind. Und es gibt natürlich rechtliche Kriterien.

univie: Was sind typische Unterlagen für die Uni Wien?
Maisel: Aus der älteren Geschichte sind das auf jeden Fall Unterlagen zur akademischen Gerichtsbarkeit. Die sind von großem Interesse, weil sie einen Aspekt von Universität dokumentieren, der weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Alle rechtlichen Angelegenheiten, von denen Universitätsangehörige betroffen waren, wurden vor dem Universitätsgericht abgehandelt, das stand unter dem Vorsitz des Rektors. Das geht zurück auf die mittelalterlichen Privilegien, die typisch waren für die Universitäten.


Die aktuelle Ausgabe von univie, dem Magazin des Alumniverbandes der Universität Wien ist erschienen. 

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univie: Archive werden oft als "Gedächtnis eines Staates" bezeichnet, das Uni-Archiv wäre demnach das Gedächtnis der Universität. Was sind die wichtigsten Dokumente, die Sie hier aufbewahren?
Maisel: Die Gründungsurkunden sind natürlich ganz entscheidend. Ein Faksimile kann man bei uns im Schausaal besichtigen und digitale Reproduktionen sind im Digital Asset Management System Phaidra der Universität Wien öffentlich zugänglich. Erst vor kurzem wurden die Gründungsurkunden in das Österreichische Nationale Memory of the World Register der UNESCO aufgenommen. Die Geschichte der Universität ist gekennzeichnet durch Brüche und entscheidende Einschnitte, die ebenfalls durch Dokumente, die es im Archiv hier gibt, dokumentiert sind. Ein wichtiger Schnitt in der frühen Geschichte der Uni war z. B. die Reformierung und Neugestaltung der Universität durch Herzog Albrecht III. 1384, also nicht einmal 20 Jahre nach der Gründung – das ist eine außergewöhnliche Urkunde, auch sehr großformatig, mit 19 Wachssiegeln.

univie: Sind die Urkunden zugleich Ihre wertvollsten Dinge?
Maisel: Ja, die gehören sicher zu den wertvollsten. Ein wichtiges Stück ist auch die Celtis-Truhe, ein Holzbehältnis, das 1508 zur Aufbewahrung der Insignien des Collegium poetarum et mathematicorum angefertigt wurde. Die Truhe ist erst im 19. Jahrhundert aufgetaucht, unter einem großen Haufen von Altakten.

univie: Wie viele Dokumente und Objekte bewahren Sie hier auf?
Maisel: Das misst man in Regallaufmetern, es sind sieben- bis achttausend.

univie: Platzprobleme?
Maisel: Es wird schön langsam eng, ein paar Reserven haben wir hier im Haus aber noch. Drei Stockwerke geht es in den Keller, aber nicht überall, diese Anlage geht ja zurück bis ins 17. Jahrhundert.

univie: Gibt es Epochen, aus denen besonders wenig erhalten ist?
Maisel: Nein, ganz im Gegenteil, im europäischen Vergleich ist gerade für das Mittelalter viel erhalten, was die Matrikelführung betrifft, aber auch sogenannte Dekanatsbücher. Die schriftlichen Aufzeichnungen der Dekane der Artistenfakultät sind von 1381/82 an bis hinauf in das 18. Jhdt. lückenlos überliefert. Es gibt vereinzelt Verluste, Dinge, die verloren gegangen sind. Etwa die Akten der juridischen Fakultät, die 1945 zu einem großen Teil zerstört wurden.

univie: Wie sieht das Archiv der Zukunft aus? Wird das Archivieren einfacher mit den neuen Technologien?
Maisel: Nein, es wird schwieriger. Eine Langzeitarchivierung von elektronischen Unterlagen  ist eine sehr kostenintensive Sache. Es geht nicht nur um die physische Speicherung, auch darum, dass diese Dinge regelmäßig überprüft und gesichert werden müssen. Sind die noch lesbar, oder sind da vielleicht ein paar Bits umgefallen? Und was ein ganz großes Problem ist, ist die Obsoleszenz von Dateiformaten.

univie: Ist es eine archivalische Utopie, alles aufzubewahren, was da ist?
Maisel: Nein, man will nicht alles aufbewahren! Aber das größte Problem ist nicht so sehr die Aufbewahrung, sondern die Auffindbarkeit.

univie: Was aus dem Universitätsleben unserer heutigen Zeit wird in 100 Jahren wichtig sein, wird Auskunft geben über die Universität der 2000er-Jahre?
Maisel: Berufungsakten werden wichtig sein, also ProfessorInnenberufungen. Die werden ja seit dem UG 2002 nicht mehr vom Ministerium entschieden, sondern von der Uni selbst. Ich denke, dass das für die universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung der Zukunft eine wichtige Quelle sein wird. Zu sehen, welche Entscheidungsgrundlagen, welche Kriterien waren ausschlaggebend für die Berufungen, die Planungen.

univie: Sammeln Sie auch privat?
Maisel: Es gibt bei mir viele Bücher und Schallplatten, aber sonst, nein. Ich habe kein besonders emotionales Verhältnis zu den Dingen.