Phantasien und Fakten über "zwei Amerikas" (Teil 1)

ICA, der Internationale Kongress der AmerikanistInnen, seit 1875 eine interdisziplinäre Konferenz "auf Rädern", macht auf seinem manchmal holprigen Weg heuer bereits zum dritten Mal in Wien Station. Ein Rückblick auf 137 Jahre transatlantische Forschungsgeschichte.

Für die AmerikanistInnen, die im Juli 1875 in Nancy (Frankreich) zu ihrem ersten internationalen Kongress zusammen kamen, war die Neue Welt voller Rätsel. So sprach Gabriel Gravier über den "Roc de Dighton", einen nach seinem Fundort in Massachusetts benannten Felsbrocken mit mysteriösen Schriftzeichen. Einige der nach Nancy eingeladenen WissenschafterInnen schrieben diese den Phöniziern zu, einem antiken Seefahrervolk aus der Gegend des heutigen Libanon. Andere sahen Isländer oder Portugiesen am Werk, nicht aber die Indigenen Nordamerikas, in denen die Wissenschaft heute die Schöpfer des "Dighton Rock" sieht. Um solche und ähnliche Geheimnisse zu lüften, nahm sich der Gründungskongress in Frankreich vor, "zum Fortschritt in den ethnografischen, linguistischen und historischen Studien über die beiden Amerikas, speziell zu den Zeiten vor Christoph Kolumbus, beizutragen."

Zwei Amerikas, ein Kontinent


Auch beim 54. International Congress of Americanists (54 ICA), der heuer mit mehr als 4.500 angemeldeten TeilnehmerInnen vom 15. bis 20. Juli in Wien abgehalten wird, liegt der Schwerpunkt auf der Einbeziehung beider Teile des amerikanischen Doppelkontinents. Zuletzt sei der Kongress eher zu einem Treffen von LateinamerikanistInnen geworden, sagt der Historiker Berthold Molden, der im Generalsekretariat des 54 ICA sitzt.

Unter dem Motto "Building Dialogues in the Americas" solle ein "Nord-Süd-Dialog" ebenso angeregt werden wie ein Meinungsaustausch unter den VertreterInnen der unterschiedlichen Fachrichtungen. Zu den klassischen Disziplinen wie Archäologie, Anthropologie und Linguistik nennt Molden neue Themenfelder wie Gender Studies sowie Forschungen zur Staatentransformation und zur "sozio-ökologischen Krise". Dem Raubbau an den Ressourcen des Südens wird das alte indigene Prinzip des "Buen vivir", des Lebens im Einklang mit der Natur, gegenübergestellt.

Über die Anfänge


In den ICA-Anfangsjahren herrschten noch gewagte Thesen über fremde Ursprünge der amerikanischen Hochkulturen vor. Forscher wollten in Maya-Tempeln Buddha-Statuen fernöstlichen Ursprungs entdeckt haben, andere favorisierten die alten Ägypter als geheimnisvolle Ideengeber. Das berichtet der Mexikaner José Comas in seinem zum 100. ICA-Jubiläum erschienen Buch "Cien años de Congresos Internacionales de Americanistas" (UNAM, Mexiko-Stadt, 1974). Mexikos Hauptstadt lud die AmerikanistInnen bereits sechs Mal zu sich ein, vom elften Kongress 1895 bis zum 53. im Jahr 2009.

War die offizielle Kongresssprache zunächst Französisch, so kam bald Spanisch und im Jahr 1900 in Paris Englisch dazu. In Paris wurden auch die Statuten neu formuliert, deren Artikel 1 noch heute gilt: "Ziel des Internationalen Kongresses der Amerikanisten ist die historische und wissenschaftliche Erforschung der beiden Amerikas und ihrer Einwohner."


TIPP: Videobeitrag zum Internationalen Kongress der AmerikanistInnen (ICA), gestaltet von Studierenden des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien der Universität Wien und des Österreichischen Lateinamerika-Instituts. Zum Videoclip


ICA und Wien

1908 fand der erste Wiener ICA statt. 376 Teilnehmer aus 18 Ländern waren in die Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie gekommen. Sie hörten Expeditionsberichte, etwa zu den damals noch Eskimos genannten nordamerikanischen Inuit, aber auch von Reisen ins Innere Brasiliens. Angesichts der intensiveren Auseinandersetzung mit den "Naturvölkern" schlug der Österreicher Karl Nebehay vor, dass der Kongress die Einrichtung von Lehrstühlen für indigene Sprachen fordern sollte, und zwar für Quechua in Lima, für Aymara in La Paz und für die auf die Azteken und Maya zurückgehenden Sprachen in Mexiko-Stadt. Laut dem ICA-Chronisten Comas lehnte der Kongress das ab, weil man sich nicht zuständig fühlte.

Nach dem Wiener Kongress, so schrieb George Grant Maccurdy im Journal "American Anthropologist" (Nr. 8, 1908), unternahmen die Teilnehmer eine Exkursion nach Budapest und nach Bosnien-Herzegowina. Diese seit 1878 von der Habsburgermonarchie okkupierte Balkanregion wurde bald nach dem ICA, im September 1908, vollständig annektiert, was zu politischen Spannungen bis zur Auslösung des Ersten Weltkriegs 1914 führte.

Kriegsjahre

Die AmerikanistInnen kamen nach dem Weltkrieg erstmals wieder 1922 in Rio de Janeiro zusammen. In den folgenden Jahren wurde die Ausrottungsgefahr der indigenen Amerikaner evident, sodass ICA-Teilnehmer mit dubiosen Vorschlägen hervortaten, "Reservate" für die "autochthonen Rassen" einzurichten. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit seinen Vernichtungslagern schien sich weltweit, auch unter WissenschafterInnen, eine neue Sensibilität für die Menschenrechte zu verbreiten. Beim ersten Nachkriegs-ICA, 1947 in Paris, trat erstmals Claude Lévi-Strauss in Erscheinung, der in den Folgejahren mit seiner strukturalistischen Analyse die Ethnologie revolutionieren sollte. Darin wird auch der eigene Wert der nicht von der Zivilisation berührten Indigenen hervorgehoben.

Lesen Sie mehr über die bewegte Geschichte des Internationalen Kongresses der AmerikanistInnen (ICA) von 1960 bis 2012 im Artikel "Phantasien und Fakten über "zwei Amerikas" (Teil 2).

Der Autor, Erhard Stackl, ist Teilnehmer des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien der Universität Wien und des Österreichischen Lateinamerika-Instituts.