"Wohin wird denn integriert?"

Über die Herausforderungen, die sich in Zusammenhang mit Flucht gesellschaftlich-politisch stellen und die Problematik rund um den Heimatbegriff spricht Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber im Interview zur Semesterfrage.

uni:view: Sie veranstalten derzeit am Institut für Europäische Ethnologie ein Institutskolloquium mit dem Titel "Flucht und Migration als kulturwissenschaftliche Herausforderung". Vor welchen Herausforderungen stehen denn die Kulturwissenschaften?
Brigitta Schmidt-Lauber: Wir beobachten gerade eine gravierende gesellschaftliche Transformation, die Wissenschaft und Politik herausfordert. Wir wollen zur Erhellung und Kommentierung dieses Prozesses beitragen und auf die Instrumentalisierung zentraler Kategorien dabei aufmerksam machen. Im Kontext von Migration wird zum Beispiel vielfach auch "Kultur" verhandelt, die populär immer noch als hermetisch geschlossenes Gebilde verstanden und essentialisiert wird. Kulturwissenschaftlich aber gehen wir längst von einem ganz anderen Kulturverständnis aus; wir ordnen Kultur nicht Nationen zu, sondern verstehen Kultur als Prozess, per definitionem als offenes Gebilde.

uni:view: Wie bringen Sie dieses Verständnis von Kultur und Migration in die Gesellschaft?
Schmidt-Lauber: Durch Forschung, gute Bücher, durch Ausstellungen und andere Beiträge und indem wir Interviews geben (lacht). Auch unser Kolloquium verstehen wir als eine Schnittstelle, an der ein akademischer Dialog geführt wird und der sich gleichzeitig nicht nur an Instituts- oder FachvertreterInnen richtet, sondern auch an eine interessierte Öffentlichkeit.

uni:view: Worin unterscheidet sich "Ihr" fachlicher Kulturbegriff von jenem, der landläufig in Verwendung ist?
Schmidt-Lauber: Der entscheidende Unterschied ist, dass wir in der Wissenschaft Kultur nicht als ein "Erbe" oder "Besitz" verstehen, sondern als fortwährend und alltäglich produziertes System von Haltungen, Vorstellungen und Umgangsweisen. Kultur zielt auf einen Prozess des Aushandelns von Regeln des Miteinanders, auf eine Praxis des Denkens, Deutens und Handelns. Daher sind aus unserer Sicht auch jene Konzeptionen von Integration, wie sie in der Politik aktuell verhandelt werden, hochproblematisch. Wohin wird denn integriert? Ausgangspunkt bildet allzu leicht ein starres Verständnis einer vermeintlich einheitlichen "Kultur", die Prämisse gesellschaftlicher Legitimität und – quasi als Eintrittskarte in ein Land – anzueignen sei. Indes ist Kultur immer Gegenstand und Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlung verschiedenster Akteure und im Wandel begriffen.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Zur Semesterfrage 2016


uni:view: Was läuft Ihrer Meinung nach politisch falsch?

Schmidt-Lauber: Politik schafft einen Rahmen für ein gesellschaftliches Miteinander. Politische Entscheidungen sind dabei niemals neutral. Das Themenfeld Integration ist Teil einer nationalen Ein- und Ausgrenzungspolitik, die gesellschaftliche Positionen zu- und festschreibt. Allerdings haben sogenannte Probleme rund um Migration keine nationale Beschränkung – weder ist Kultur national beschränkt, noch sind es die Herausforderungen, die sich in Zusammenhang mit Flucht gesellschaftlich-politisch stellen.

uni:view: Das Thema Migration ist derzeit in aller Munde, einfach, weil die Anzahl an Flüchtlingen sehr hoch ist. Teile der Bevölkerung, und das nicht nur rechts von der Mitte, haben Angst. Wie kann man den Menschen die Angst nehmen?
Schmidt-Lauber: Angst kann durch Begegnung, Erfahrung und Wissen genommen werden. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass wir diesbezüglich mit einem kritisch-hinterfragenden Blick kategoriale Zuordnungen, Ausgrenzungen sowie den aktuellen Gebrauch von Begriffen wie "Kultur" und "Heimat" betrachten. Wir haben es ja bei diesen Angstmodellen in einem hohen Maß mit medial vermittelter Angst zu tun. Man kann gerade auch in der österreichischen Geschichte und Gesellschaft sehr klar aufdecken, dass das, was vermeintlich einheitlich ist, tatsächlich immer schon vielfältig war. Ich denke, gerade jetzt sind ein Bewusstwerden für das, was Gesellschaft in diesem Sinn ausmacht, und eine Verständigung auf gemeinsame Werte notwendig.

uni:view: Apropos Werte: Diese Diskussion kann für Europa eine Chance darstellen. Sehen Sie das auch so?
Schmidt-Lauber: Sicherlich. Und zwar im Sinne einer Einsicht in gesellschaftliche Dynamiken und einer Einigung auf bestimmte Werte und Vorstellungen, die lange einem europäischen Selbstverständnis zugeschrieben waren. Im Moment sehe ich das allerdings nicht so richtig.

Erklärung österreichischer Volkskunde-Institute, Museen, Vereine und Verbände zu "Kultur" und "Heimat" (PDF): Die unterzeichnenden österreichischen Universitäts-Institute für Volkskunde, Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie sowie die Verbände und Museen für Volkskunde wenden sich gegen die Art und Weise, wie derzeit im Zusammenhang mit der Bürgerkriegsflucht und Migration vieler Menschen die Begriffe Kultur, Heimat und Identität instrumentalisiert werden.

uni:view: Rund um die Bundespräsidentenwahl waren Begriffe wie Heimat und Sicherheit plakative Themen. Selbst Van der Bellen warb auf seinen Plakaten mit "Heimat" und "Österreich". Sehen Sie den Begriff "Heimat" generell problematisch?
Schmidt-Lauber: Der Heimatbegriff ist sehr, sehr beladen – nicht zuletzt aufgrund des Nationalsozialismus und seiner Schlüsselbedeutung in einem semantischen Umfeld einer Blut-und-Boden-Ideologie. Die Antwort ist mehrfach: Man muss immer darauf achten, in welchen Kontexten und mit welchen Zielen Begriffe in Gebrauch sind. Es macht einen Unterschied, ob Hofer oder Van der Bellen den Begriff "Heimat" in den Mund nimmt.

Natürlich gibt es auch positive Verständnisse und nicht ausgrenzende Verwendungen von Heimat, es ist ein offener Begriff, der auch für das Zugehörigkeitsgefühl eines Menschen in Bezug auf seine Umwelt eingesetzt werden kann. Schließlich ist Heimat Orten nicht inhärent, sondern wird vielfältig "gemacht". Je nach Kontext kann dieser Begriff aber auch eingeschränkt, possessiv und ideologisch eng verwendet werden – und gerade Letzteres ist in vielen Zusammenhängen immer noch der Fall.



uni:view: Zum Abschluss des Interviews unsere Semesterfrage an Sie: Wie verändert Migration Europa?

Schmidt-Lauber:
Migration hat Europa schon immer geprägt und verändert. Es erscheint aktuell als ein neues Thema, das ein Gewahrwerden der Relationalität und Prozessualität von Zugehörigkeiten und der Vernetztheit auch von Problemlagen evoziert, aber mitnichten nur ein gegenwärtiges Phänomen oder ein Problem "der Anderen" ist. Wie Migration Europa verändert, können wir letztlich noch nicht sagen, weil wir mitten in einem Prozess sind. Dabei wird ein Phänomen zum Problem erklärt und in einen Kontext von Bedrohung gestellt, was wiederum zu starken Abgrenzungspolitiken und Nationalismen führt. Obwohl gerade das Gegenteil sinnvoll und logisch wäre.

uni:view: Danke für das Gespräch! (td)

Univ.-Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber, M.A. ist Vorständin des Instituts für Europäische Ethnologie an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät.

VERANSTALTUNGSTIPP: Podiumsdiskussion zur Semesterfrage

Am 20. Juni 2016 (18 Uhr, Großer Festsaal, Hauptgebäude) haben Sie die Gelegenheit, die Semesterfrage mit ExpertInnen aus Wissenschaft und Praxis live zu diskutieren. Am Podium: Migrationsrechtsexpertin Christine Langenfeld (Universität Göttingen) – sie hält das Impulsreferat zum Thema "Eine gute Migrationspolitik braucht mehr Europa!" sowie von der Universität Wien Migrationsforscher und Vizerektor Heinz Faßmann, EU-Expertin Gerda Falkner, Osteuropa-Historiker Philipp Ther und Politikwissenschafterin Alev Cakir. Es moderiert Petra Stuiber (Der Standard).

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