Tatjana Thelen: Abenteuer Ethnologie

"Hinter" das gesprochene Wort blicken: Als Ethnologin ist Tatjana Thelen gesellschaftlichen Phänomenen auf der Spur. Seit 2012 hat sie eine Professur für ethnographische Methoden und Analyse sozialer Netzwerke am Fakultätszentrum für Methoden der Fakultät für Sozialwissenschaften inne.

"Wie werden Ungleichheiten in sozialen Netzwerken reproduziert?", das ist die Frage, die Ethnologin Tatjana Thelen in ihrer Forschung antreibt. Ihr aktueller Schwerpunkt liegt auf dem Bereich "Care". Die deutschen Worte "Pflege", "Betreuung" und "Sorge" erfassen jeweils nur Teilbereiche und so verwendet die Sozialwissenschafterin bewusst den englischen Begriff: "Ich betrachte ganz unterschiedliche Phänomene der Pflege – von Kinderbetreuung über die Altenpflege bis hin zu Praktiken am Arbeitsplatz."

Kulturspezifische Fürsorge im Fokus

"Als Ethnologin beschäftige ich mich mit gegenwärtigen Themen" – die Wissenschafterin verfolgt aktuell Debatten über ein verpflichtendes Kindergartenjahr für Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, sowie um "kultursensible Pflege" für SeniorInnen. Diese umfasst spezielle Angebote für Menschen mit vielfältigen kulturellen Hintergründen. Ein Beispiel aus der Praxis: Im Pflegeheim werden Gerichte ohne Schweinefleisch für MuslimInnen angeboten. Für Thelen tut sich mit dieser kulturspezifischen Fürsorge ein Forschungsfeld auf: "Egal, wie man eingreift, wenn differenziert wird, entstehen auch Formen von Exklusion. Genau dafür interessiere ich mich."
    
Mit "Kind und Kegel" durch Europa

Bereits im Rahmen ihrer Magisterarbeit widmete sie sich sozialen Netzwerken von Ungarndeutschen. Später untersuchte sie für ihre Dissertation die "Gewinner und Verlierer" in der postsozialistischen Landwirtschaft. Dafür verbrachte sie fast zwei Jahre gemeinsam mit ihrer Tochter in Ungarn und Rumänien, beobachtete, analysierte und führte Gespräche. "Die Herausforderung bei der ethnographischen Forschung ist, 'hinter' das gesprochene Wort zu blicken und zu sehen, was die Menschen wirklich tun und was sie bewegt", so Tatjana Thelen.

Doch nicht nur Ungarn und Rumänien: Für die Wissenschaft zog sie mit "Kind und Kegel" innerhalb Deutschlands um, in die Schweiz und schlussendlich nach Österreich. "Meine Tochter lernte als erste Sprache Ungarisch", erinnert sich die zweifache Mutter. Sie freut sich über ihren Umzug nach Wien, "dem Tor zum Osten", da sie sich nach wie vor mit dem postsozialistischen Europa beschäftigt. "Die Feldforschung bedarf einer langen Anwesenheit vor Ort, Zeit, die man in der Position als Professorin normalerweise nicht hat. Es ist einfacher, wenn das Forschungsfeld in der Nähe ist", so Tatjana Thelen.  

Abenteuerlich statt verstaubt

Die gebürtige Kölnerin ist Spezialistin für ethnographische Methoden und Analyse sozialer Netzwerke. Genau diese Expertise brachte sie 2012 an das Fakultätszentrum für Methoden der Sozialwissenschaften der Universität Wien. Dieses Zentrum wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, theoretische und methodologische Debatten anzustoßen.

"Ich freue mich sehr, dass ethnographische Methoden hier einen Platz gefunden haben", so Tatjana Thelen. Denn schon lange möchte sie mit dem "verstaubten" Image der ethnographischen Forschung aufräumen: "Wir EthnologInnen brauchen zwar nicht viel technisches Equipment, aber unsere Einsichten werden in einer globalen Welt immer wichtiger."


Tatjana Thelen (re.) mit ihrer Forschungsgruppe zu "Lokaler Staat und soziale Sicherung im ländlichen Ungarn, Rumänien und Serbien", finanziert durch die Volkswagen Stiftung, am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. (Foto: privat)



"Sich nicht entmutigen lassen!"

Tatjana Thelen studierte in Bonn und Köln Ethnologie und Islamwissenschaften, lernte dort unter anderem Arabisch, Türkisch und sogar klassisches Aztekisch: "In meiner damaligen Abschlussprüfung musste ich ein aztekisches Kochrezept für Menschenfleisch übersetzen", schmunzelt die Forscherin. Nach ihrer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Doktorarbeit bewarb sie sich zunächst erfolgreich um ein Postdoc-Stipendium am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Später leitete sie dort zwei Forschungsprojekte. Sie lehrte zudem an den Universitäten in Berlin, Szeged, Halle, Bayreuth und Zürich.

Während ihrer Studienzeit wurde den Ethnologiestudierenden oftmals eine "Zukunft als TaxifahrerInnen" prophezeit, Tatjana Thelens wissenschaftliche Laufbahn zeugt jedoch vom Gegenteil. Das möchte sie auch ihren Studierenden mit auf den Weg geben: "Sich nicht entmutigen lassen! Die ethnographische Forschung ist bereichernd und gesellschaftlich relevant." (hm)     

Univ.-Prof. Dr. Tatjana Thelen, M.A. vom Fakultätszentrum für Methoden der Fakultät für Sozialwissenschaften hält am Montag, 20. Oktober 2014, um 18 Uhr im Kleinen Festsaal des Hauptgebäudes der Universität Wien ihre Antrittsvorlesung zum Thema "Wege einer relationalen Anthropologie: Ethnographische Einblicke in Verwandtschaft und Staat."