Weiche Kristalle fließen anders

Eine Flüssigkeit muss kein ungeordnetes Gewirr von Teilchen sein: Ein Forschungsteam der Technischen Universität Wien und der Universität Wien entdeckte neuartige Strukturen aus winzigen Teilchen, die in Flüssigkeiten schweben. Teilchen-Cluster in Flüssigkeiten können unter mechanischer Belastung Stränge ausbilden und dadurch ihre Fließeigenschaften dramatisch ändern. Dazu publizierten die Forscher kürzlich im Fachjournal "Physical Review Letters"; von den beschriebenen Effekten versprechen sie sich ein breites, technisches Anwendungsspektrum.

Was haben Blut, Tinte und Mehlsuppe gemeinsam? Sie alle sind Flüssigkeiten, in denen winzige Teilchen schweben – sogenannte "Kolloide". In manchen dieser Flüssigkeiten finden sich die Teilchen zu Gruppen zusammen, die sich dann ganz von selbst regelmäßig anordnen – wie Atome in einem Kristall. Einer Forschungsgruppe der TU Wien und der Universität Wien gelang es nun, durch Computersimulationen erstaunliche Eigenschaften dieser kristallartigen Substanzen zu ergründen. Unter mechanischer Belastung kann sich die kristalline Ordnung in eine andere Struktur umwandeln oder sich komplett auflösen.

Geordnete Struktur in Flüssigkeit

Lagern sich winzige Teilchen aneinander an, bezeichnet man sie als Cluster. Die Teilchen innerhalb eines Clusters können sich überlappen und durchdringen, ähnlich wie ein dichter Schwarm von Aalen, die eng verschlungen aneinander vorbeigleiten. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sich diese Cluster nicht einfach an zufälligen Orten aufhalten, sondern ganz von selbst regelmäßige Strukturen ausbilden – sogenannte "weiche Kristalle".

Der Abstand von einem Cluster unter bestimmten äußeren Bedingungen zum nächsten ist immer gleich. "Erhöht man die Teilchendichte, bekommt zwar jeder Cluster eine immer größere Anzahl von Teilchen ab, doch der Abstand zwischen den Clustern bleibt unverändert", erklärt Arash Nikoubashman, Doktorand an der TU Wien. Er führte die Berechnungen im Rahmen seiner Dissertation gemeinsam mit Gerhard Kahl am Institut für Theoretische Physik (TU Wien) und Christos Likos von der Gruppe Computergestützte Physik der Fakultät für Physik (Universität Wien) durch. Diese gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeiten werden im Rahmen des von der EU finanzierten "Initial Training Networks" COMPLOIDS realisiert.

Vom Kristallgitter zu langen Fäden

"Wir hatten schon aufgrund unserer früheren Ergebnisse die Vermutung, dass die Partikel unter äußeren Einflüssen unerwartete Eigenschaften zeigen können", erzählen die Physiker – und diese Hoffnungen wurden nicht enttäuscht: Am Computer konnte berechnet werden, wie sich die kristallartige Struktur unter einer mechanischen Belastung verhält, die eine Scherspannung bewirkt – also die Flächen innerhalb der Flüssigkeit gegeneinander verschiebt. Zunächst beginnt die Kristallstruktur zu schmelzen – die Bindungen zwischen den Clustern werden gebrochen. Aus diesen "abgeschmolzenen" Teilchenclustern bildet sich dann aber spontan eine neue Ordnung: Lange, gerade Teilchenstränge entstehen, die sauber parallel zueinander angeordnet sind.

Von dünnflüssig zu dickflüssig

Während sich diese Stränge bilden, wird die Substanz immer dünnflüssiger – ihre Zähigkeit (die Viskosität) nimmt ab. Das liegt daran, dass sich die parallelen Stränge relativ leicht gegeneinander verschieben können. Belastet man das Material dann noch stärker, brechen allerdings auch diese Stränge auseinander, es entsteht eine "geschmolzene", also ungeordnete Ansammlung von Teilchenclustern – und die Zähigkeit der Substanz nimmt wieder zu. Immer mehr Teilchen werden aus ihren ursprünglichen Positionen gespült und bremsen so den Flüssigkeitsstrom ab. Dieses Verhalten gilt universell für alle Cluster-Kristalle, und mit einfachen theoretischen Überlegungen kann man die kritische Belastung, bei der die geordnete Struktur komplett geschmolzen ist, sehr genau vorhersagen.

Kristalle aus weichen, durchdringbaren Teilchen können unter Scher-Beanspruchung ganz neue Szenarien der Selbstorganisation aufzeigen. Geometrische Strukturen ergeben sich einfach durch die Art der Kräfte, die zwischen den Teilchen wirken.

Maßgeschneiderte Nanomaterialien

Diese Forschung an "weicher Materie" im Nano- und Mikrometerbereich ist nicht nur für die Grundlagenforschung, interessant: Materialien dieser Art spielen auch im Alltag eine wichtige Rolle. Zu ihnen zählen Blut oder große Biopolymere wie etwa DNA-Moleküle. Sie sind in der Biotechnologie, aber auch in der Erdöl- und Pharmaindustrie bedeutsam – und überall dort, wo maßgeschneiderte Nanomaterialien benötigt werden. Eine Flüssigkeit, die unter äußeren Kräften ihre Zähigkeit ändert, verspricht jedenfalls ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten – von Stoßdämpfern über Flusssensoren bis hin zu Schutzkleidung. (red)

Das Paper "Cluster Crystal under Shear" (Autoren: A. Nikoubashman, G. Kahl, and C. N. Likos) erschien im August 2011 im Journal "Physical Review Letters".

Nichtnewtonsche Flüssigkeiten

Bei gewöhnlichen Flüssigkeiten wie Wasser bleibt die Zähigkeit (Viskosität) unabhängig von Fließgeschwindigkeit und Krafteinwirkung gleich. Man bezeichnet sie als "Newtonsche Flüssigkeiten". Im Gegensatz dazu ändern nichtnewtonsche Flüssigkeiten ihre Viskosität, wenn äußere Kräfte auf sie einwirken. Eine Abhängigkeit der Viskosität von mechanischer Krafteinwirkung bezeichnet man auch als Thixotropie.