Mutterliebe unterm Mikroskop

Seit über 500 Millionen Jahren bevölkern sie die Erde. Mikroskopisch klein und deshalb zu Kolonien zusammengeschlossen, überziehen sie Korallen, Steine, Muscheln und Algen in den Meeren sowie die Stängel und Blätter von Pflanzen in süßen Gewässern. Die Rede ist von den Bryozoen – auch als Moostierchen bekannt. In einem FWF-Projekt untersucht der Paläontologe Andrei Ostrovsky die "Evolution von Matrotrophie und Plazentation bei den Bryozoen" und geht dabei der Frage auf den Grund, wie deren Muttertiere ihren Nachwuchs versorgen.

"Unter den wirbellosen Tieren sind die Bryozoen einzigartig: Etliche ihrer Art ernähren die Nachkommenschaft über ihren eigenen Organismus und verfügen über Plazenta-ähnliche Strukturen", erklärt Andrei Ostrovsky vom Institut für Paläontologie, der sich schon seit längerem mit den verschiedenen Strategien der Fortpflanzung und Brutpflege bei den Bryozoen beschäftigt. In seinem kürzlich gestarteten FWF-Projekt will der Wissenschafter die Hauptmuster paralleler Evolutionslinien bei den Moostierchen – die zu Kolonien zusammengeschlossen an Moosteppiche erinnern – klären: "Denn die Bryozoen haben unabhängig voneinander verschiedene Strategien der 'Plazentation' entwickelt, weshalb es interessant sein wird, diese miteinander zu vergleichen", so Ostrovsky. Der Begriff "Plazentation" bezeichnet die Bildung und Entwicklung einer Plazenta oder Plazenta-ähnlicher Strukturen nach der Befruchtung.
 
Vielfalt macht stark

Die hohe Artenvielfalt in den Meeren spiegelt sich auch in der Vielzahl an Bryozoen-Arten wieder: Während einige auf Steinen, Algen oder Muscheln leben, schwimmen andere zusammen mit Schildkröten und Seeschlangen durch die Meere oder sind auf Wasserpflanzen im Süßwasser zu finden. "Von den 10.000 Spezies, die es innerhalb der Bryozoen derzeit gibt, sind jedoch nur 20 erforscht", erklärt der russische Wissenschafter, der bereits in Deutschland, Dänemark, den USA und England geforscht hat. Er will herausfinden, wie es den Bryozoen gelungen ist, 500 Millionen Jahre auf der Erde zu überleben: "Was hat sie so erfolgreich gemacht?", formuliert Ostrovsky die Schlüsselfrage.

Die Vielfalt der Bryozoen ist sicherlich eine Antwort darauf: Änderten sich die Lebensbedingungen der Tiere, so hatten einige von ihnen stets die richtige Überlebensstrategie. "Ein gutes Beispiel dafür ist die parallele Entwicklung unterschiedlicher Methoden der Fortpflanzung und Brutpflege", meint Ostrovsky. Wie sich – und unter welchen Bedingungen – die morphologischen und physiologischen Merkmale der extra-embryonalen Ernährung bei den Bryozoen im Laufe der Evolution geändert haben, will der Paläontologe nun herausfinden.
 
Versorgung der Kleinen

Dafür untersucht er zusammen mit einem PhD-Studenten die zytologischen – oder auch zellbiologischen – Strukturen und Prozesse, die während der "Plazentation" und Brutpflege auftreten. "Wir verwenden licht- und transmissionselektronenmikroskopische sowie moderne 3D-Rekonstruktionstechniken", erklärt Ostrovsky, der auf diese Weise einen Beweis für die "plazentalen" Strukturen auf einer ultrastrukturellen Ebene finden will: "Welche Funktionen haben zum Beispiel die einzelnen Zellen beim Weiterleiten der Nährstoffe an den Embryo?" Um diese Frage zu beantworten, untersucht der Wissenschafter die Zellen und Organellen – die kleinen Organe – der Tiere. Indem er die "planzentalen" Strukturen der Bryozoen auf anatomischer und ultrastruktureller Ebene miteinander vergleicht, kann er bedeutende Trends in der Evolution der "Plazentation" rekonstruieren.  

Lebensrettende Bakterien

Ein Nebenprodukt des Projekts könnte für die Krebsforschung relevant sein. Denn in einigen Bryozoen – und nur dort –- lebt das Bakterium Bryostatin: ein sekundäres Stoffwechselprodukt, das für die Krebstherapie von großer Bedeutung ist. Die Bryozoen-Muttertiere beschützen ihre Nachkommen mit diesen Bakterien, die sich wie eine "giftige Wolke" um den Nachwuchs legen, der dadurch für hungrige Fische ungenießbar wird. "Es hat sich gezeigt, dass diese Bakterien nur dann sehr zahlreich auftreten, wenn die Bryozoen Eier oder Larven legen", beschreibt Ostrovsky ein interessantes Forschungsergebnis, das KrebsforscherInnen dabei helfen kann, die nützlichen Bakterien ausfindig zu machen.  

Ähnliche "Erziehungsmethoden"

In einem weiteren Schritt will der Paläontologe die verschiedenen Arten der Brutpflege bei den Bryozoen auch mit denen anderer Tierarten vergleichen: "Es ist spannend zu sehen, wie die verschiedensten Tiere ihre Kinder auf ähnliche Weise versorgen und dabei dieselben Ansätze verfolgen".

Während in Fachbüchern die "Plazentation" und Brutpflege bei Bryozoen als sehr selten beschrieben wird, kann Ostrovsky nun das Gegenteil beweisen. Die Frage, warum sie so oft vorkommt und weshalb genau bei diesen Tieren, wird den Wissenschafter jedoch noch länger beschäftigen. (ps)

Dr. Andrei Ostrovsky, PhD vom Institut für Paläontologie leitet das FWF-Projekt "Evolution von Matrotrophie und Plazentation bei den Bryozoen", das von 1. Juli 2010 bis 30. April 2013 läuft.