Erbinformationen

Ein Wörterbuch für unsere Gene

18. Juni 2020 von Salme Taha
Die Teile des genetischen Codes passen ineinander wie ein Schlüssel ins Schlüsselloch. Das zeigt Bojan Zagrovic, Biophysiker an den Max Perutz Labs. Damit kommt er nicht nur dem Ursprung unserer Gene einen Schritt näher, sondern ermöglicht auch medizinische Anwendungen, u.a. in der Krebstherapie.

Auf der Erde gibt es zirka 6.500 verschiedene Sprachen, auf molekularer Ebene existiert jedoch nur eine: jene des genetischen Codes. "Von Bakterien bis hin zu Menschen – alle Lebewesen sprechen dieselbe Sprache", erklärt Bojan Zagrovic vom Department für Strukturbiologie und Computational Biology der Universität Wien. An den Max Perutz Labs, ein Joint Venture der Uni Wien und der MedUni Wien, erforschen er und sein Team den molekularen Aufbau des genetischen Codes. Mithilfe von Computersimulationen und bioinformatischen Methoden konnten die Forscher*innen nun die Logik hinter diesem Code ein Stück weiter entschlüsseln und dessen Ursprung vor drei bis vier Milliarden Jahren besser verstehen.

Wie ein Schlüssel im Schlüsselloch

"Der genetische Code ermöglicht den Informationstransfer in unseren Zellen. Mit seiner Hilfe werden die Erbinformationen in der DNS in mRNA (messenger Ribonukleinsäure) transkribiert und anschließend von dieser in Proteine codiert", erklärt der Biophysiker. "Wir untersuchen einerseits die physikalisch-chemischen Eigenschaften dieser Moleküle und andererseits ihre Beziehung zueinander."

Ein Diagramm zeigt mRNA PYR-Dichte und Protein PYR-Affinität in Relation zu mRNA-Codon und Protein-Rückstand.
Mit seiner Forschung zeigt Zagrovic, dass mRNA und die Proteine, die sie codieren, dieselben physikalisch-chemischen Eigenschaften haben und damit komplementär sind. Seine Hypothese: Es handelt sich um einen Widerhall der ursprünglichen Kommunikationsweise des genetischen Codes, die mehrere Millionen Jahre alt ist. © Max Perutz Labs

Grundsätzlich sind Proteine und messenger RNA zwei verschiedene Moleküle. Sie unterscheiden sich in Aussehen, Größe und Funktion. Zagrovic zeigt mit seiner Forschung jedoch, dass sie mehr gemein haben als bislang angenommen. "Zwischen ihnen gibt es gewisse Verknüpfungen, die bisher noch niemand entdeckt hat", präsentiert er seine wichtigsten Erkenntnisse. "Die messenger RNA und das entsprechende Protein weisen eine gewisse Kompatibilität auf, was ihre Eigenschaften betrifft: Wir haben Beweise gefunden, dass die zwei, unter gewissen Bedingungen, perfekt ineinander passen – wie der Schlüssel ins Schlüsselloch."

"Die DNS ist ein essenzieller Grundbaustein des Lebens. Wie groß wir werden, wie intelligent wir sind oder welche Krankheiten wir erben – all das ist als Erbinformation in unseren Genen codiert", erläutert Bojan Zagrovic. Der genetische Code bestimmt, wie diese Informationen aus einzelnen DNA-Sequenzen in Proteine übersetzt werden. Eine DNA-Sequenz besteht immer aus mehreren DNA-Basen, die in Dreierpaaren in einer bestimmten Abfolge aneinandergereiht sind. Ein Dreierpaar aus Basen entspricht immer einer Aminosäure im Protein, wodurch die Eigenschaften dieses Proteins diktiert werden.

Information und Ding zugleich

Die Kompatibilität zwischen heutiger mRNA und Proteinen wäre ein Widerhall des uralten und nicht mehr verwendeten Prozesses, mit dem die Information in mRNA ursprünglich in Proteine übersetzt wurde. "Man kann sich das wie beim Keksebacken vorstellen: Eine Person bittet mich darum, Kekse in der Form von Bären zu backen. Es gibt zwei Wege, mir zu erklären, was sie genau will", illustriert der Forscher den Vorgang. "Sie kann mir entweder mit Hilfe einer Sprache erklären, wie die Kekse aussehen sollen, oder sie gibt mir einen Keksausstecher in der gewünschten Form."

Mit der ersten Methode werden Proteine heutzutage gebaut. Letztere ist jedoch die schnellere Variante, auf die unsere Gene vor mehreren Millionen Jahren möglicherweise zurückgegriffen haben, um Erbinformationen zu transportieren. "Darauf weisen unsere Ergebnisse hin. Eine Keksinformation ist jedoch nicht nur bloße Information, sie ist auch ein materieller Gegenstand", führt Zagrovic weiter aus. Genauso verhält es sich mit den Informationen in unseren Genen – auch sie haben eine materielle Grundlage. "Es ist möglich, dass der Ursprung des genetischen Codes mit dieser materiellen Grundlage verknüpft ist", so der Forscher.

Die Max Perutz Labs am Vienna Biocenter sind ein Gemeinschaftsunternehmen der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien. Als Ausbildungs- und Forschungsstätte werden hier einerseits Studierende unterrichtet und andererseits brandaktuelle Fragen der Life Sciences erforscht. Benannt sind die Labore nach Max Perutz, der mit seinen Erkenntnissen über die Struktur von Hämoglobin nicht nur 1962 den Nobel Preis gewonnen, sondern auch die Molekulare Biologie begründet hat.

Vom genetischen Code ...

"Die moderne Biologie teilt sich auf viele unterschiedliche Bereiche auf – aber unsere Forschung ist nicht nur für die Molekulare Biophysik, sondern für die Biologie im Allgemeinen relevant. Das ist das Spannende an unserer Arbeit", betont Zagrovic. Obwohl der Biophysiker in seinem Labor Grundlagenforschung betreibt, könnten die Forschungsergebnisse in der Medizin, der Nanotechnologie und der Materialwissenschaft Anwendung finden.

Mit dem ERC Proof of Concept-Grant, den Zagrovic 2018 vom Europäischen Forschungsrat erhalten hat, beschäftigt er sich mit solchen möglichen Anwendungsgebieten – insbesondere in der Medizin. "Die Verwendung von therapeutischen monoklonalen Antikörpern, auch mAbs genannt, hat sich in den letzten 20 Jahren zu einer der wirksamsten Strategien bei der Behandlung von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen entwickelt", erläutert Zagrovic: "Eine zentrale Herausforderung bei der Entwicklung solcher mAb-Therapeutika ist aber die Proteinlöslichkeit. Und genau dieses Problem versuchen wir mithilfe von RNA-Molekülen zu beheben".

... zu Krebs-Therapeutika

Das Forscher*innenteam entwickelt ein Softwarepaket, um RNA-Liganden zu entwerfen, welche wiederum die Löslichkeit von mAb-Therapeutika verbessern sollen. "Mithilfe unserer Erkenntnisse können Forscher*innen in Zukunft also nicht nur den Ursprung des genetischen Codes vor drei bis vier Milliarden Jahren besser verstehen, sondern auch dessen Folgen für das heutige genetische System analysieren – was zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten eröffnet", bringt Zagrovic seine Forschung auf den Punkt. Die Entwicklung und Verbesserung von Medikamenten ist nur eine davon. (st) 

Das ERC Starting Projekt "Max Perutz Lab for Molecular Biophysics" startete 2011 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Bojan Zagrovic vom Department für Strukturbiologie und Computational Biology am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Wien. Der Forscher beschäftigte sich dabei mit der Frage, wie sich Biomoleküle in der Zelle finden und miteinander interagieren. 2018 erhielt Zagrovic für seine Forschung vom Europäischen Förderrat einen ERC Proof Of Concept-Grant, mit dem er aufbauend auf das ERC Starting Projekt die Weiterentwicklung von Therapieansätzen mit hochkonzentrierten monoklonalen Antikörpern erforscht. 

© Max Perutz Labs/Max Kropitz
© Max Perutz Labs/Max Kropitz
Bojan Zagrovic ist Professor für Molekulare Biophysik am Zentrum für Molekulare Biologie. Sein Forschungsschwerpunkt sind computergestützte und experimentelle Studien der biomolekularen Struktur, Dynamik und Wechselwirkungen.

"Ich bin ausgebildeter Biologe, habe mich aber schon immer für Physik, Chemie und Computer Sciences interessiert. Die Forschung, die ich jetzt betreibe, ist eine Mischung aus alledem", schildert Zagrovic seine derzeitige Arbeit.