Der Weg nach Sarajevo

Das Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 führte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch wie kam es überhaupt zum Anschlag? Im Interview mit uni:view spricht der Südosteuropa-Historiker Alojz Ivanišević von der Universität Wien über die Hintergründe des Attentats und Parallelen zur heutigen Zeit.

uni:view: Professor Ivanišević, in diesen Tagen jährt sich das Attentat von Sarajevo, bei dem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie Chotek ermordet wurden, zum 100. Mal. Was geschah am 28. Juni 1914 in der bosnischen Hauptstadt?
Alojz Ivanišević: Das Attentat wurde bekanntlich in Sarajevo während eines Besuches des Thronfolgers zum Abschluss von Manövern der k.u.k Truppen in Bosnien verübt. Die Attentäter brachten durch den Anschlag ihre radikale Gegnerschaft gegenüber der Okkupationsmacht Österreich-Ungarn zum Ausdruck. Das Datum des Besuchs empfanden diese jungen serbischen Nationalisten als eine zusätzliche Provokation. Am 28. Juni 1389 fand nämlich auf dem Amselfeld (Kosovo polje) eine Schlacht zwischen serbischen bzw. christlichen und osmanischen Streitkräften statt. Die Schlacht endete nach der Meinung der meisten HistorikerInnen zwar unentschieden, doch gilt sie in der serbischen Nationalmythologie als moralischer Sieg, der bis heute gefeiert wird (Stichwort Vidovdan).

uni:view: Wer waren die Attentäter von Sarajevo und was bewegte sie zu ihrer Tat?
Ivanišević: Die Attentäter waren junge Männer im Alter von 17 bis 27 Jahren, die der radikalen, politischen Organisation "Mlada Bosna" (dt. Junges Bosnien) angehörten. Diese Vereinigung war serbisch dominiert und vertrat eine extrem nationalistische Ideologie, die die Befreiung des serbischen und der anderen "südslawischen Brüder" von der "Fremdherrschaft" als Endziel verkündete. Österreich-Ungarn wurde als Besatzungsmacht in Bosnien betrachtet, die diesem Ziel im Weg stand. Entscheidend für die Planung und Durchführung des Attentats war wohl die Vernetzung zwischen der "Mlada Bosna" und politischen sowie militärischen Kreisen in Serbien. Höchstwahrscheinlich zog der Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes und des Geheimbundes "Vereinigung oder Tod", Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, von Belgrad aus die Fäden im Hintergrund.



Das Bild zeigt den Attentäter Gavrilo Princip im Jahr 1910 – Vier Jahre bevor er die tödlichen Schüsse auf den österreich-ungarischen Thronfolger abfeuerte.



uni:view: Wodurch entwickelte sich die radikale Weltanschauung der jungen Attentäter?
Ivanišević: Beeinflusst wurden die Attentäter sicherlich durch eine allgemeine nationalistische Einstellung in der serbischen und bosnischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien. Die Regierung, die Opposition und eigentlich die ganze serbische Öffentlichkeit hat die Annexion seitens der Doppelmonarchie als Raub an den "zentralen serbischen Ländern" gesehen. Außerdem spielte wohl auch die Lektüre von einschlägiger Literatur eine Rolle bei der Radikalisierung. Vor allem der Attentäter Gavrilo Princip las viele anarchistische und antiimperialistische Schriften. Für die Attentäter galt der Tod für die "nationale Sache" schließlich als Ehre und Pflicht.


Das Bild zeigt einige der Attentäter bei ihrem Prozess 1914 in Sarajevo. Drei der 25 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Viele zu langen Haftstrafen.



uni:view:
Die Bereitschaft, sein Leben einer Weltanschauung zu opfern, erinnert an heutige Terrorgruppen. Ist ein Vergleich angebracht?

Ivanišević:
Man kann Gruppierungen wie "Mlada Bosna" und ähnliche Organisationen im südslawischen Raum zu jener Zeit sicherlich mit Terrororganisationen aus der heutigen Zeit vergleichen. Die Bereitschaft zum Tod ist da ein zentraler Aspekt. Aber die Unterscheidung zwischen Terrorvereinigungen und einer ganzen Gesellschaft ist sehr wichtig. Es muss klar sein, dass beispielsweise die serbische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gleichzusetzen ist mit radikalen Organisationen. Solchen Generalisierungen sind fehl am Platz.

uni:view:
Vor dem Attentat wurden von verschiedenen Seiten Warnungen ausgesprochen. Glauben sie, das Attentat von Sarajevo hätte verhindert werden können?

Ivanišević:
Der damalige serbische Gesandte in Wien warnte den gemeinsamen  Finanzminister Bilinski, der für Bosnien und die Herzegowina unmittelbar zuständig war, und den Außenminister Berchtold vor dem Attentat. Außerdem gingen auch beim sogenannten "Defensiven Kundschaftsdienst" des Generalstabes der k.u.k. Armee einige Hinweise auf das geplante Attentat ein. Diese wurden aber weder im Außenministerium, noch im Finanzministerium, noch vom Thronfolger Franz Ferdinand selbst, ernst genommen. Es war wahrscheinlich eine Mischung aus Ignoranz gegenüber Serbien und der Illusion Franz Ferdinands, in den annektierten Provinzen begeistert empfangen zu werden, die die Warnungen verblassen ließen und schließlich zum Attentat führten. (fh)

Dr. Alojz Ivanišević ist außerordentlicher Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind u.a. die politische, Kultur- und Sozialgeschichte Ostmittel- und Südosteuropas und die Historiographiegeschichte.