Das große Beben

Eingefallene Kirchtürme, zerstörte Häuser, Tote und Verletzte – am 15. September 1590 bebte in weiten Teilen Mitteleuropas die Erde. Heute weiß man: Das Epizentrum lag in Niederösterreich. Über historische Erdbebenforschung in Österreich sprach uni:view mit dem Historiker Karl Vocelka.

"Das Kernkraftwerk Zwentendorf und die damit verbundenen Debatten waren der Anlass dafür, das Beben von 1590 – das schwerste bekannte Beben in Wien und Niederösterreich, das von Sachsen bis Siebenbürgen spürbar war – aus wissenschaftlicher Perspektive zu analysieren", erzählt Karl Vocelka vom Institut für Geschichte von den Anfängen der historischen Erdbebenforschung in Österreich: "Beim Bau der Anlage wurde keine umfassende Erdbebenstudie erstellt."

Auch das Wissen über das große Beben von 1590 war äußerst lückenhaft bzw. die vorhandenen Informationen veraltet – so zum Beispiel die Publikationen des renommierten Geologen Eduard Suess, die aus dem 19. Jahrhundert stammen und noch einige Hypothesen enthalten. Die offenen Fragen zum Erdbebenrisiko in Österreich, die im Falle von Zwentendorf einige Jahre zuvor auch die breite Öffentlichkeit beschäftigten, begannen die beteiligten ForscherInnen daher Mitte der 1980er Jahre systematisch aufzuarbeiten, u.a. im Rahmen eines vom FWF geförderten Projekts.

Geschichte trifft Geophysik

Um ein Beben, das so lange in der Vergangenheit zurückliegt, zu "enträtseln", braucht es nicht nur das Wissen von SeismologInnen, sondern auch die Expertise von HistorikerInnen, so Vocelka: "Seismographen gibt es erst seit rund 150 Jahren. Die historische Erdbebenforschung beschäftigt sich jedoch mit Beben, die davor stattfanden. Da werden natürlich Quellen relevant, die wir HistorikerInnen auffinden und analysieren müssen." Und das ist leichter gesagt als getan, denn Ende des 16. Jahrhunderts gab es weder eine systematische Erhebung der Erdbebenschäden, noch genaue Aufzeichnungen über die Opfer der Katastrophe.


Buchtipp: Rolf Gutdeutsch, Christa Hammerl, Ingeborg Mayer und Karl Vocelka rekonstruierten in "Erdbeben als historisches Ereignis" (1987) das Beben von 1590.



Stärke 6: Vom Riss in der Wand bis zum "abgestürzten Vogerl"

Gemeinsam mit dem Geophysiker Rudolf Gutdeutsch, mittlerweile emeritierter Professor am Institut für Meteorologie und Geophysik, entstand daher die Idee zu einem interdisziplinären Forschungsprojekt. Ein wichtiges Ziel war es, vorhandene Quellen zu überprüfen und neue zu erschließen, in denen ZeitgenossInnen aus verschiedenen Regionen davon berichten, wie sie dieses Naturereignis erlebt haben. Die Beschreibungen – z.B. "Der Luster wackelte", "Es entstand ein Riss in der Mauer" oder "Der Kanarienvogel fiel vom Stangerl" – halfen den GeophysikerInnen, sogenannte "Isoseisten" – Linien, die Orte gleicher Intensitäten eines Erdbebens verbinden – zu zeichnen und somit zu Daten über das Erdbeben zu gelangen. Demnach hatte das Beben eine Stärke von mindestens 6,0 laut Richterskala, das Epizentrum lag südlich von Neulengbach in Niederösterreich, und die Herdlänge betrug zwischen acht und 15 Kilometern.

Kritische Quellenanalyse

"Eine aufschlussreiche Quelle für das Beben von 1590 sind die sogenannten 'Fuggerzeitungen'. Die Familie Fugger, ein Kaufmannsgeschlecht der Neuzeit, verfügte über eine Art 'Korrespondentennetzwerk' quer durch Europa", erklärt der Historiker: "Diese in Form von Briefen übermittelten Nachrichten befinden sich gesammelt in der Österreichischen Nationalbibliothek und enthalten wertvolle Informationen über das große Beben."


Der Historiker Karl Vocelka beschäftigt sich in seiner Forschung u.a. mit der Sozial- und Kulturgeschichte Zentraleuropas in der Frühen Neuzeit.



Darüber hinaus analysierte das Team u.a. Gesandtschaftsberichte des venezianischen Botschafters in Wien, der in seiner wöchentlichen Depesche in die Heimat über das Erdbeben berichtete. Weitere Quellen zeugen davon, dass sich so manche Grundherren darum bemüht haben, weniger Steuern entrichten zu müssen: "Man sieht, dass man die Quellen sehr kritisch betrachten muss. Denn insbesondere bei letzterem Beispiel ist es durchaus möglich, dass die Schäden übertrieben dargestellt wurden, um weniger zahlen zu müssen", so Vocelka über die manchmal schwierige Arbeit mit historischen Zeugnissen.


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"Österreich hat sich dem Thema Erdbebensicherheit sehr spät zugewandt. Ohne unsere Pionierarbeit, die insbesondere Rudolf Gutdeutsch angestoßen hat, würden wir in der historischen Erdbebenforschung ziemlich nachhinken. Insbesondere durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit war das damals eine sehr bereichernde und spannende Forschungszeit", schließt der Historiker. (dh)

Ao. Univ.-Prof. Dr. Karl Vocelka ist Professor für österreichische Geschichte, Vorstand des Instituts für Geschichte und Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung.