Das Gedächtnis der Gesteine

"Detektivarbeit" nennen Rainer Abart und Bernhard Grasemann, die beiden Sprecher des neuen Initiativkollegs "Deformation in Geomaterialien", die Rekonstruktion der Vergangenheit von Gesteinen. Mit physikalisch-chemischer Analytik sowie analogen und numerischen Simulationen untersuchen sie im Rahmen des Doktoratsprogramms gemeinsam mit ihren KollegInnen am Geozentrum und zehn internationalen NachwuchswissenschafterInnen Mikrostrukturen in deformierten Gesteinen und Mineralien, um ihre oft Jahrmillionen zurück reichende Geschichte zu rekonstruieren. Das für drei Jahre laufende Initiativkolleg startete am 1. Oktober 2011.

"Im übertragenen Sinn haben Gesteine und Mineralien durchaus ein Gedächtnis", erklärt Rainer Abart, Leiter des Departments für Lithosphärenforschung. "Die Steine speichern den zeitlichen Ablauf der Druck- und Temperaturverhältnisse, unter denen sie sich gebildet haben, und wir können diese Geschichte mit bestimmten Methoden aus dem Material herauslesen."

Unter der elektronischen Lupe

Das ist leichter gesagt als erforscht: "Es bedarf akribischer Detailarbeit, bis genaue Daten über die Gesteinsentstehung vorliegen", so Abart. Die Methoden dazu werden seit Jahrzehnten weiterentwickelt, wie etwa Strukturuntersuchungen mit dem Elektronenmikroskop und die Ionenstrahltechnik. Ziel ist es, die Entstehungsbedingungen der Gesteine zu entschlüsseln: Sind sie in zehn Kilometern Tiefe bei 300 Grad Celsius entstanden oder in zwei Kilometern bei nur 60 Grad? Wie schnell sind die Gesteine aus der Tiefe hochgekommen? Dauerte die Exhumation (Freilegung durch Erosion) Jahrmillionen oder nur wenige Tage? Die jeweiligen Mikro-Strukturen und chemischen Muster in den Gesteinen liefern den WissenschafterInnen hierzu Aufschlüsse.

"Gestresste" Gesteine

Steine sind im Erdinneren mitunter großen mechanischen Spannungen ausgesetzt, die zur Gesteinsdeformation führen: Eine Störung im Gestein ist ein Bruch, an dem Bewegung stattgefunden hat, sei es durch seismische Aktivitäten oder durch bestimmte Spannungsverhältnisse. Deformation passiert entweder ganz plötzlich, beispielsweise durch seismische Ereignisse, oder aber durch "kriechende Störungen" – Spannungen, die über mehrere Jahrtausende hinweg ablaufen.

"Dieses Deformationsverhalten gibt es auch in sehr kleinen Maßstäben, bis hin zu atomarer Größe", erklärt der Co-Sprecher des Initiativkollegs, Bernhard Grasemann: "Schon kleinste Störungen im Kristallgitter enthalten Hinweise für uns." Das im Rahmen des IK zu untersuchende Gesteinsmaterial befindet sich großteils bereits in den Sammlungen der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie und wird nun im Detail analysiert. "Da das Material aus laufenden Projekten stammt, können wir auf bereits erhobenen Basisdaten – etwa zu den Druck- und Temperaturverhältnissen während der Gesteinsentstehung – aufbauen", so der Wissenschafter.

Drei Forschungsbereiche

Das IK ist in drei Forschungsfelder gegliedert, die sich jeweils mit spezifischen Methoden der komplexen Materie nähern. Die NachwuchswissenschafterInnen der Gruppe "Topical Field I: Localization of deformation, chemo – mechanical feedback" beschäftigen sich mit den Effekten von Deformationen auf das Gedächtnis der Gesteine. Sie untersuchen Veränderungen der Mineralvergesellschaftung, isotopische sowie chemische Muster. "Wir analysieren die über die Zeit integrierten Produkte von Vorgängen, die sich über Jahrmillionen abgespielt haben", so Abart.

Die Gruppe "Topical Field II: Reaction induced stress and deformation" untersucht anhand von Experimenten das Verhalten von Gesteinen bei unterschiedlichen Temperaturen und mechanischen Spannungen. Wie reagiert zum Beispiel Granit im Vergleich zu metamorphem Kalk unter denselben Bedingungen auf eine Veränderung? Inwieweit verändert sich die Struktur bzw. die chemische Zusammensetzung?

Die DoktorandInnen des Bereichs "Topical Field III: Deformation assisted re-equilibration phenomena" untersuchen schließlich den Einfluss von Deformation auf die Erhaltung bzw. Neueinstellung von Element- bzw. Isotopenverteilungen zwischen den verschiedenen Mineralen eines Gesteins. Diese sind die Grundlage für die Druck-Temperaturbestimmungen (Geothermobarometrie) und für die radiometrische Altersbestimmung (Geochronologie).

Breite Expertise

Das Doktoratsprogramm bietet den Studierenden ein weites Fachspektrum aus den Feldern Mineralogie, Lithosphärenforschung sowie Geodynamik und Sedimentologie. "Damit verbinden wir ganz bewusst drei klassische Geodisziplinen, denn in der Natur laufen die Vorgänge ja auch gekoppelt ab", erläutern Abart und Grasemann abschließend. "Uns ist es wichtig, dass alle KollegiatInnen eine breite Expertise auf hohem Niveau bekommen." (td)


Das Initiativkolleg "Deformation in Geomaterialien" – Sprecher: Univ.-Prof. Dr. Rainer Abart vom Department für Lithosphärenforschung und Univ.-Prof. Mag. Dr. Bernhard Grasemann vom Department für Geodynamik und Sedimentologie – startete am 1. Oktober 2011 und läuft drei Jahre.