Politisch engagierte Demokratiewissenschaft

Seit 2015 begleitet die Universität Wien und die Austrian Development Agency (ADA) das Projekt, in Bhutan eine neue Hochschule für Rechtswissenschaften aufzubauen. Wolfram Schaffar unterrichtete vor Kurzem als erster Professor der Universität Wien vor Ort. Für uni:view berichtet er von seinen Eindrücken.

Der Kurs, den ich für die angehenden RechtswissenschafterInnen an der neuen Hochschule in Bhutan hielt, war ein Intensivkurs unter dem Titel "Einführung in die Politikwissenschaft". Ich konnte bereits in einem ähnlichen Projekt in Myanmar/Burma Erfahrungen sammeln. Doch im Vergleich zu dieser Aufgabe stellte Bhutan ganz andere Herausforderungen.

Wie unterrichtet man z.B. Internationale Beziehungen in einem Land, dessen geographische Lage so prekär ist? Das kleine Land am Südhang des Himalaya grenzt im Norden an China und im Süden an Indien, zwei Länder mit deutlichen Großmachtambitionen, die erst im vergangenen August einen militärischen Grenzkonflikt ausgetragen haben – und zwar in Doklam, einem Hochplateau in Bhutan.

Nicht nur aus religiösen Gründen ist der Verkauf von Fleisch monatsweise verboten. Fleischproduktion ist klimaschädlich, verletzt das Recht der Tiere und widerspricht möglicherwiese dem Bruttonationalglück. (© W. Schaffar)

Monarchie als stabilisierender Faktor

Erst 2008 wurde in Bhutan eine Verfassung verkündet, die den Übergang von einer absoluten zur konstitutionellen Monarchie besiegelte und einen umfassenden Demokratisierungsprozess einleitete – ein Vorgang, den der 4. König und Namensgeber der Universität angestoßen hatte und der die Monarchie als stabilisierenden Faktor im politischen System weiter gestärkt hat. Wie unterrichtet man hier Demokratie und Menschenrechte, die ja in Europa ihren Durchbruch u.a. mit der französischen Revolution feierten?

Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft

Schnell war klar: Für Bhutan passt keines der gängigen Lehrbücher. Vielmehr muss – im Dialog mit den Gegebenheiten vor Ort – der Kurs und damit das Fach neu entwickelt werden. Gemeinsame Anknüpfungspunkte gibt es viele, wenn man z.B. Demokratie nicht als fix definiertes System, sondern – im Sinne einer kritischen Demokratietheorie – als kontinuierlichen und umkämpften Prozess der Aneignung von Politik und des Abbaus von Herrschaftsverhältnissen begreift. Hier ist der Hintergrund als Dozent aus Österreich durchaus eine Stärke: Anders als im angelsächsischen Raum steht die Disziplin in deutschsprachigen Ländern in der Tradition einer – politisch engagierten – Demokratiewissenschaft.

Verschränkung von Forschung und Lehre

In einem Land, in dem die Verfassung gerade erst in eine "Verfassungswirklichkeit" übersetzt wird, in dem anhand des Verlaufs von politischen Auseinandersetzungen immer auch über die Grundlagen des Systems entschieden wird, kann Unterricht in Politikwissenschaft nur bedeuten, dass er gleichzeitig mit der Forschung zum politischen System stattfindet.

Der Oberste Richter und Justizminister berichtet in einem Experteninterview, er habe im vergangenen Jahr verfügt, dass mehrere hundert wegen Drogenhandel inhaftierte Personen wieder freigelassen werden müssen. Das Gesetz, auf deren Grundlage sie verhaftet worden waren, erklärte er für unzureichend und verwies es an das Parlament zurück.

Wolfram Schaffar beim Unterricht in Bhutan an der Jigme Singye Wangchuck School of Law. Eine neu eröffnete Vortragreihe ermöglicht es, neben dem Unterricht auch Forschungsergebnisse zu diskutieren. (© W. Schaffar)

Politikwissenschaftlich lässt sich das Urteil ähnlich wie der Fall Marbury v. Madison in den USA 1803 einordnen – ein Urteil, durch das der Supreme Court seine Kompetenz etablierte, Gesetze des Parlaments zu überprüfen. Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit. Damit war klar: Textgrundlage für die Unterrichtseinheit zu politischen Systemen müssen die Artikel der bhutanischen Tageszeitung "Kuensel" (die Klarheit) sein, die das Urteil in Bhutan als Machtkampf zwischen Parlament und Höchstgericht debattieren.

Politikwissenschaft und Entwicklung

Politik und damit auch Politikwissenschaft ist in Bhutan immer auch Entwicklungspolitik. Bekannt wurde das Land für das Konzept des Bruttonationalglücks, das auch den rechtlichen und normativen Rahmen bot, den Fleischkonsum oder Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft einzuschränken. Die Unterrichtseinheit zu Internationaler Politik hatte daher das Ziel, in einem Rollenspiel zu simulieren, was ein Beitritt Bhutans zur Welthandelsorganisation (WTO) bedeuten würde – das Aufnahmeverfahren wurde erst im vergangenen Jahr unterbrochen. Ganz klar: In einem Streitschlichtungsverfahren der WTO hätten Argumente des Bruttonationalglücks keine Chance auf Gehör.

Noch gibt es keine Tradition von Politik- und Rechtswissenschaft in Bhutan. Die KollegInnen aus Wien, die ab jetzt dort unterrichten werden und ihre Arbeit auch zum Ausgangpunkt gemeinsamer Forschungsprojekte nehmen, stellen aber einen wichtigen Schritt dar.

Univ.-Prof. Dr. Wolfram Schaffar ist seit 2014 als Stiftungsprofessor der Austrian Development Agency am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien tätig. Der Austausch fand auf der Grundlage eines von ao. Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windischgrätz vom Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien ausgehandelten MoU statt, in dem die Universität Wien zusichert, zur Unterstützung der Anfangsphase Lehrkräfte nach Bhutan zu entsenden.