Literatur-Nobelpreis 2017: "Stilistische und literarische Meisterschaft"

Der Literatur-Nobelpreis 2017 geht an den Briten Kazuo Ishiguro. Völlig zu Recht, findet Achim Hermann Hölter, Komparatist und Literaturwissenschafter an der Universität Wien. Für uni:view stellt er seinen persönlichen "Favoriten" vor und gibt einen Einblick in das literarische Werk Ishiguros.

uni:view: Können Sie den diesjährigen Nobelpreisträger für Literatur kurz porträtieren?
Achim Hermann Hölter:
Ishiguro wurde in Nagasaki geboren und kam im Alter von fünf Jahren nach England, wo er auch jetzt noch lebt. Er ist ohne Zweifel einer der wichtigsten Autoren englischer Sprache und hat eine sehr große weltweite Leserschaft. International bekannt wurde er 1989 durch "The remains of the day" (nicht zuletzt durch die Verfilmung von James Ivory), aber schon seine ersten Romane "A Pale View of Hills" (1982) und "The Artist of the Floating World" (1986), in denen er auch seine Existenz zwischen den beiden Welten Japan und England verarbeitet, waren sehr erfolgreich. Es folgten die Romane "The Unconsoled" (1995), "When we were Orphans" (2000), "Never let me go" (2005), die Geschichtensammlung "Nocturnes – Five Stories of Music and Nightfall" (2009) und zuletzt der Roman "The Buried Giant" (2015). Ishiguros Werke entziehen sich gängigen literarischen "Schubladen" – jeder seiner Romane war bislang völlig anders als die anderen. Was sie vereint, ist die stilistische und literarische Meisterschaft, mit der sie erzählt sind.

uni:view: Welche Themen durchziehen das Werk von Kazuo Ishiguro?
Hölter:
Universale und sehr humane Themen wie Erinnerung, Identität, der Umgang mit Liebe, Schuld, Verlust und Sterblichkeit, das "ungelebte Leben" hinter den ungesagten Dingen, die stete Suche des Menschen nach seinen Wurzeln und die tiefschichtigen Verbindungen zu anderen Menschen.

uni:view: Welcher Roman hat Sie am meisten beeindruckt und warum?
Hölter:
Das ist schwer zu sagen, eben weil seine Werke so verschieden sind. "The remains of the day" zeigt sicher am besten Ishiguros unnachahmliche Fähigkeit, individuelle Charaktere vor dem großen Bild eines historischen Hintergrunds in großer Zartheit und gleichzeitig geradezu schmerzhafter Deutlichkeit lebendig werden zu lassen. Persönlich würde ich den Roman "Never let me go" nennen. Hier entwickelt Ishiguro die Liebesgeschichte seiner jugendlichen Protagonisten in einer extrem düsteren Welt, in der Menschen als lebende Organ-Ersatzteillager geklont werden und sterben müssen, sobald sie ihre "Aufgabe" erfüllt haben. Ishiguro erzählt in "Never let me go" unvergesslich vom Loslassen-Können und -Müssen, aber auch vom großen Trost, der im Wiederfinden von Erinnerungen liegt.

uni:view: Die Auszeichnung für Ishiguro kam für viele überraschend – warum?
Hölter:
Das würde ich nicht unbedingt sagen. Ishiguro ist vielleicht weniger in der Öffentlichkeit präsent als andere Autoren und war deshalb nicht so stark "gehandelt", gilt aber unter LiteraturkennerInnen schon lange als einer der wichtigsten und besten englischsprachigen Schriftsteller. Meine Frau und ich waren uns einig – das ist die Wahrheit –, dass Ishiguro unser Favorit war.

uni:view: Letztes Jahr bekam Bob Dylan die hohe Auszeichnung verliehen, für viele erschien diese Wahl als "verfehlt". Passt ein klassischer Autor wie Ishiguro "besser" zum Nobelpreis?
Hölter:
Von "besser passen" würde ich nicht sprechen. Bob Dylan hat beträchtliche Verdienste als Songwriter erbracht und die Erweiterung des Literaturbegriffs, den die schwedische Akademie ihrer Entscheidung zugrunde lag, erschien mir angemessen und war mir sympathisch. Absolut verfehlt, um es moderat auszudrücken, erschien mir erst Dylans Verhalten, und zwar in jedem einzelnen Schritt, von der anfänglichen Funkstille über die missgelaunten Zwischennachrichten bis zum gezwungen
wirkenden Pflichtvortrag bei der späteren Abholung. Wie gentlemanlike war dagegen Ishiguros bescheidene Erklärung, als er in London von seiner Würdigung erfuhr.

uni:view: Vielen Dank für das Interview! (red)

Zur Person: Achim Hermann Hölter, M.A. ist seit September 2009 Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung, Internationale Rezeptionsforschung, Europäische Romantik sowie Themen- und Diskursforschung.