Je mehr gesellschaftliche Möglichkeiten, desto gesünder

Die feministische Theorie hat Gesundheitspotenzial - davon ist Gerlinde Mauerer überzeugt. Am Institut für Soziologie sowie im Verein "Frauenhetz" beschäftigt sie sich mit sozialen und biologischen Einflüssen auf die Gesundheit von Frauen. Die Sozialwissenschafterin ist Herausgeberin des kürzlich erschienenen Sammelbands "Frauengesundheit in Theorie und Praxis. Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften". Im Interview für das "uni:view"-Dossier "100 Jahre Internationaler Frauentag" berichtet sie aus diesem Forschungsbereich.

uni:view: Sie haben kürzlich den Sammelband "Frauengesundheit in Theorie und Praxis" publiziert. Womit beschäftigt sich die Frauengesundheitsforschung?
Gerlinde Mauerer:
Die Frauengesundheitsforschung hat die sozialen und biologischen Einflüsse auf die Gesundheit von Frauen zum Thema. Wir sind hier sehr nahe an der Sex/Gender Thematik der feministischen Theorien. Diese Wurzeln versuche ich in meiner Arbeit stark miteinzubeziehen. Die Forschung zeigt auf, dass Frauen an vielen Stellen im gängigen Gesundheitssystem nicht adäquat behandelt werden: Punkto Anatomie wird nach wie vor vom Normbild Mann ausgegangen; im Bereich Innere Medizin werden Diagnosen falsch gestellt, weil Stoffwechselvorgänge bei Frauen anders verlaufen; die Medikamentenforschung ist von Männern geprägt und auf den männlichen Körper ausgerichtet, etc. Es gibt viele Studien und Untersuchungen, die diese Punkte aufzeigen. Woran es aber eklatant mangelt, ist die gesundheits- und sozialpolitische Umsetzung. Der politische Aspekt ist daher besonders wichtig.

Am 8. März jährte sich der Internationale Frauentag zum 100. Mal. Was bedeutet der Tag für Sie?
Gerlinde Mauerer: Ich muss lachen, weil ich vor zwei Jahren nach einer Demonstration anlässlich des Frauentags derartige Kopfschmerzen hatte, dass mir diese Schmerz-Assoziation jetzt als allererstes in den Sinn kommt. Aber nein, der Frauentag ist ja nicht nur Demonstration – obwohl ich diese öffentliche, laute Vertretung von Fraueninteressen auch sehr wichtig finde. Der Internationale Frauentag ist für mich ein Zurückerinnern daran, dass viele Dinge – wie zum Beispiel das Wahlrecht für Frauen – nicht selbstverständlich waren, sondern erst erkämpft werden mussten. Der Tag gibt Anlass dafür, auf die positiven Veränderungen hinzuweisen, gleichzeitig aber die ungelösten Probleme aufzuzeigen. In der Vorbereitung auf den Frauentag ergibt sich außerdem für Frauengruppen die Möglichkeit, wieder zusammenzukommen und auch etwaige Differenzen auszutragen.

uni:view: Wo in der gesundheitspolitischen Praxis gibt es besondere Missstände?
Mauerer: In Kärnten beispielsweise gibt es nach wie vor keine Gynäkologin mit Kassenvertrag. Auch die Ärztekammer ist eine sehr verstaubte Lobby. Engagierte ÄrztInnen versuchen, Veränderungen voranzutreiben. Aber es gibt viele, die "aufgeben" und dann eben in ihren Ordinationen gute Arbeit an der Basis leisten. Diese 60 bis 80 Stunden pro Arbeitswoche wollen sich manche ÄrztInnen einfach nicht antun – eben weil sie auf ihre Gesundheit achten und sich ihre Ressourcen anders einteilen möchten. Da wo Frauen auf ihre Gesundheit schauen, sind sie nicht mehr bereit, dieses politische, soziale, ehrenamtliche Multitasking durchzuführen. Frauengesundheit konsequent gedacht und ausgeführt heißt, auf vielen Ebenen weniger zu machen.

uni:view: Wie sieht die Praxis der im Gesundheitsbereich tätigen Frauen – Stichwort Pflege – aus?

Mauerer: Es ist schon paradox: Im Pflegebereich sind mehrheitlich Frauen tätig, Pflegedirektorinnen gibt es aber wenige. Männer werden mit dem Argument der guten Aufstiegschancen – weil eben wenige männliche Konkurrenten – in diesen Bereich "gelockt". Hier gibt es noch viel zu tun. Die Berufsgruppe der Hebammen, fast ausschließlich Frauen, hat es besonders schwer, Lobbying zu betreiben. Was es bedeutet, als Frau oft über seine Grenzen zu gehen, wird hier besonders sichtbar: Freiberufliche Hebammen, die versuchen, jenseits medizinischer Diagnostik Frauen als geistig-körperliche Entität zu sehen, werden schnell kriminalisiert. Denn der Zeitgeist schlägt in eine andere Richtung, nämlich hin zur Technisierung von Schwangerschaft und Geburt.

uni:view: Geht Frauengesundheitsforschung mit feministischen Theorien Hand in Hand?
Mauerer: Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die politischen Forderungen der zweiten Frauenbewegung – à la "Mein Bauch gehört mir!" – hier noch enthalten sind. Ich meine ja. Auch bei solch klassisch weiblichen Themen wie Geburtsvorbereitung kann natürlich der theoretische Zugang zum Frau-Sein in der Gesellschaft mit im Gepäck sein. Mein Zugang zur Frauengesundheitsforschung basiert neben feministischen Theorien auch auf praktischen Erfahrungen im Gesundheitsbereich: Ich habe als Ergotherapeutin gearbeitet und dort die Hierarchien hautnah erlebt. In unserer Gesellschaft sind Frauen in vielen Bereichen nach wie vor benachteiligt, und das hat letztendlich auch Auswirkungen auf ihre Gesundheit. Daher: je mehr gesellschaftliche Möglichkeiten, desto gesünder. (dh)

Dr. Gerlinde Mauerer lehrt und forscht am Institut für Soziologie. Darüber hinaus engagiert sich die Sozialwissenschafterin im Verein "Frauenhetz – feministische Bildung, Kultur und Politik."

Literaturtipp:
Mauerer, Gerlinde (Hg.) 2010: Frauengesundheit in Theorie und Praxis
Feministische Perspektiven in den Gesundheitswissenschaften.

transkript Verlag: Reihe Gender Studies. ISBN 978-3-8376-1461-9
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