Interdisziplinäre Zeiten in Semmering

"Zeit in den Wissenschaften" lautet heuer das Thema des alljährlichen Österreichischen Wissenschaftstags, der vom 22. bis 24. Oktober auf dem Semmering stattfand. Skandinavistin Antje Wischmann fasst die wichtigsten Eindrücke der Tagung zusammen.

Anschaulich konnte der diesjährige Wissenschaftstag der Österreichischen Forschungsgemeinschaft den Gewinn der interdisziplinären Zusammenarbeit demonstrieren. Viele der ReferentInnen sahen sich, oft freudig überrascht, dazu veranlasst, ihre Vorträge zu modifizieren und zu ergänzen anlässlich der thematischen Bezüge, die sich im Laufe des Programms ergeben hatten. Die ausführlichen Diskussionen nach den Vorträgen ermöglichten, gemeinsame Spuren, aber auch terminologische Unschärfen oder konzeptuelle Widersprüche genauer auszuleuchten. So ist es auch zu erklären, dass statt des Begriffs "Zeit" denn auch bald nuancierend von "Zeiten", "Multitemporalität" oder "Phänomenen der Zeitlichkeit" die Rede war.

Der Österreichische Wissenschaftstag wird auf Initiative der Österreichischen Forschungsgemeinschaft alljährlich zum österreichischen Nationalfeiertag veranstaltet. Er ist als repräsentative Versammlung hochqualifizierter WissenschafterInnen konzipiert, die – unter Hintansetzung von Standes- und Gruppeninteressen – wissenschafts- und forschungspolitische Anliegen aus der Erfahrung der Wissenschaftspraxis formulieren und nach Möglichkeiten und Wegen zu deren Durchsetzung suchen wollen.

"Zeitwahrnehmung" und "Zeiterfahrung"

Als anschlussfähig für mehrere Beiträge der Tagung erwiesen sich vor allem kulturwissenschaftliche Fragestellungen, wobei "Zeitwahrnehmung" und "Zeiterfahrung" zwangsläufig zu ästhetischen Aspekten hinleiten müssen, da uns Zeit nie unmittelbar greifbar ist. Die substantivische Auffassung führt in die Irre: Es gibt keine Substanz, die sich messen ließe, keine Zeit, die uns regiert, keinen Strom der Zeit, der uns fortreißt. Die soziokulturelle Abstimmung im Umgang mit der Zeit ist das Resultat einer über Jahrhunderte hinweg stattgefundenen Sozialisation.

Obwohl die mechanische Uhr sich als Instrument der Abstimmung und später Standardisierung durchsetzen sollte, geht diesem ein langer Prozess paralleler Zeitpraktiken voraus: So werden Sanduhren eingesetzt, um beispielweise die Dauer von Lektüreeinheiten festzulegen. Mitunter leitet sich der Alltagsrhythmus aus dem habituellen Nacheinander von Tätigkeiten ab, wie etwa die Reihung von Gottesdienst, Ratssitzung, Markt (Gerhard Dohrn-van Rossum, Geschichte). Selbst das Maß einer Stunde ist von den Jahreszeiten und Lichtverhältnissen abhängig. Die Annahme, dass die Taktung des Klosterlebens bereits auf den Fordismus vorausweise, wurde im historischen Vortrag daher vehement widerlegt.

Antje Wischmann vom Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft berichtet vom alljährlichen Österreichischen Wissenschaftstag. (Foto: Universität Wien)

In mehreren Beiträgen, u.a. zum Nebeneinander unterschiedlicher Zeitpraktiken in der japanischen Modernisierungsgeschichte (Brigitte Steger, Japanologie), wird deutlich, dass selbst ein offizielles Zeitregime, wie die Einführung westlicher Schlagwerk-Uhren durch Missionare in Japan, zuließ, dass weiterhin Kalendersysteme und Zeitvorgaben koexistierten. Der religiöse Anspruch, die Lebenszeit angemessen zu nutzen, findet sich übrigens nicht nur in der "protestantischen Ethik" (Max Weber), sondern ebenso im Konfuzianismus/ Buddhismus wieder.

"Die Zukunft vorhersagen"


Ein für viele überraschender Berührungspunkt ergab sich in der philosophischen Fundierung der Untersuchung des Verhältnisses von Raum zu Zeit (Stephan Günzel, Philosophie und Medienwissenschaft) und der "Raumzeit" aus der Sicht der theoretischen Physik (Frederic P. Schuller). Der mit besonderer Verve dargebotene naturwissenschaftliche Vortrag regte zu spekulativem Nachdenken über die prinzipielle Modellierung des Denkens von Zeitfragen an. Aus der Entwicklung (Evolution) von Materie werde der zukünftige Status von Objekten und Situationen abgeleitet (Zitat "die Zukunft vorhersagen"). Beide Disziplinen belegen, dass die Kategorien Raum und Zeit eben nicht a priori vorgegeben sind, wie Kants Diktum festgelegt hatte, doch bereits von Herder kritisiert wurde. Henri Bergsons Sichtweise in "Materie und Gedächtnis" (1896) erweist sich demnach als physikalisch stichhaltig.

Literatur und Kunst


Der literaturwissenschaftliche Vortrag (Ansgar Nünning, Literatur- und Kulturwissenschaft) stellte eindringlich die Vergegenwärtigung zeitlicher Erfahrung in literarischen Texten heraus, indem die Multitemporalität und das "Achtsamkeitstempo" – in literarischen Texte thematisiert und während der Lektüre umgesetzt – reichhaltig aufgefächert wurden. Hierbei taten sich Querverbindungen auf sowohl zum soziologischen Beschleunigungsdiskurs (Christian Korunka, Psychologie) als auch zu aktuellen Säkularismen (Anne Koch, Vergleichende Religionswissenschaft) oder den Narrativen von der Überwindung der Krisenanfälligkeit oder einer "Wiedergewinnung" von Präsenz. Literatur und Kunst lassen sich zweifellos als bevorzugte Erkenntnisgegenstände für die Untersuchung von Zeitwahrnehmung und -erfahrung erschließen.

Dass die Sehnsucht nach intensivem Gegenwartserleben ein ethisches und ästhetisches Grundbedürfnis bleiben wird, stellten auf dieser Tagung nicht nur der Umgang mit Literatur, Kunst und Musik (Werner Goebl, Musik) und die interdisziplinären Brückenschläge unter Beweis, sondern auch die Beeindruckung aller Teilnehmenden durch den Wetterwechsel in Semmering, der durch die Panoramafenster des Tagungssaales im Hotel Panhans verfolgt werden konnte. (red)