Im Forschungsgespräch mit Charles Taylor

Der weltberühmte Philosoph Charles Taylor diskutierte am 18. Juni an der Katholisch-Theologischen Fakultät über das Verhältnis zwischen Christentum und säkularer Moderne.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor zählt neben Jürgen Habermas zu den großen Modernetheoretikern der Gegenwart. In dem voluminösen Werk "A Secular Age" (2007) legte Taylor eine umfassende Rekonstruktion der säkularen Moderne vor. Im Forschungsgespräch, das Hans Schelkshorn, stv. Vorstand des Instituts für Christliche Philosophie, in Zusammenarbeit mit der Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary European Society" (RaT) und dem Forschungsschwerpunkt der Katholisch-Theologischen Fakultät "Ethik in säkularen und religiösen Kontexten" organisierte, stand daher zunächst Charles Taylors Begriff der "säkularen Moderne" im Zentrum der Debatte.


Charles Taylor ist emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University (Montreal, Kanada). 2012 hat er die Schiller-Professur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena inne. Taylor wurde 2007 mit dem Templeton-Preis und 2008 mit dem Kyoto-Preis ausgezeichnet. Sein Buch "A Secular Age" wurde auch in Österreich geehrt – mit dem Bruno-Kreisky-Preis 2010. Informationen zum Buch



Vielschichtiges Bild

Das säkulare Zeitalter kann nach Charles Taylor durch zwei historische Eckdaten markiert werden: Um 1500 war der christliche Glaube in Europa noch weithin unhinterfragt; im Jahr 2000 hingegen sind nicht-religiöse bzw. rein immanente Lebensformen zu einem Massenphänomen geworden, so dass nun umgekehrt religiöse Lebensformen unter Rechtfertigungsdruck stehen.

In der historischen Rekonstruktion der Entstehung einer agnostischen bzw. atheistischen Alternative zu religiösen Lebensformen wendet sich Taylor einerseits gegen Säkularisierungstheorien, in denen zentrale Errungenschaften der Moderne (Menschenrechte, Demokratie, globale Solidarität) bloß aus der Überwindung von Religion und Metaphysik durch die moderne Wissenschaft hervorgegangen seien, andererseits gegen orthodox-religiöse Deutungen, die die atheistische Moderne als moralischen Nihilismus identifizieren.

Solche lineare Schemata halten jedoch, wie Taylor in detailreichen Studien zeigt, der historischen Prüfung nicht stand. In der Genese der Moderne zeigt sich vielmehr ein äußerst vielschichtiges Bild. So beerben agnostische oder atheistische Lebensformen immer wieder christliche Traditionen; umgekehrt haben sich auch christliche Lebensformen in säkularen Kontexten in vielfältiger Weise reformuliert.

Varianten atheistischer und religiöser Lebensformen


Daher stehen nach Taylor heute einander jeweils unterschiedliche Varianten agnostischer bzw. atheistischer und religiöser Lebensformen gegenüber. Das entscheidende Charakteristikum der Säkularität besteht daher für Taylor nicht im Rückgang religiöser Praktiken, sondern im Pluralismus der Lebensformen, die sich gegenseitig in Frage stellen und damit in einer gewissen Fragilität verbleiben. Denn keine Lebensform kann andere Lebensformen mit einem schlagenden Argument einfach aus dem Feld werfen. Säkularität ist damit nicht mehr einfach ein Gegenüber zu Religion, sondern bezeichnet die Bedingungen, in denen sich sowohl religiöse als auch nicht-religiöse Lebensformen vorfinden.

Mit Charles Taylor im Gespräch

Im Forschungsgespräch, das von Kurt Appel, dem Leiter der Forschungsplattform RaT, moderiert wurde, konnten zentrale Themen von Taylors Moderne-Deutung besprochen werden, insbesondere der geschichtsphilosophische Rahmen, die verschiedenen Konzepte neuzeitlicher Subjektivität und nicht zuletzt die Frage nach einem normativen Religionsbegriff. Darüber hinaus wurde auch die Frage behandelt, inwiefern das "säkulare Zeitalter" eine bloß innereuropäische bzw. westliche "Metaerzählung" ist.

Der zweite Teil des Forschungsgesprächs war der Frage nach der Zukunft des Christentums in der säkularen Moderne gewidmet. Charles Taylor skizzierte in einem einleitenden Statement die verschiedenen soziologischen Gestalten des Christentums seit dem 19. Jahrhundert, einerseits neodurkheimistische Formen, in denen das Christentum Teil der nationalen Identität ist, andererseits postdurkheimistische Formen, in denen christliche Lebensformen im Kontext individueller Sinnsuche kreiert werden.

"Sich konstruktiv auf die innerchristliche Pluralität einlassen"

In der Diskussion wies Taylor auf die extreme Heterogenität christlicher Lebensformen und ihrer institutionellen Ausformungen hin. Die Zukunft der Kirchen wird daher nicht zuletzt von der Fähigkeit abhängen, sich auf die innerchristliche Pluralität konstruktiv einzulassen. Den zentralen Fokus des Christentums sieht Taylor in Netzwerken der Agape, d.h. einer Liebe, die sich nicht in einer Ethik des gegenseitigen Vorteils erschöpft. Die Praxis einer bedingungslosen Hingabe an die Anderen sieht Taylor vereinzelt auch in politischen Praktiken fortwirken, wie z.B. den Wahrheitskommissionen in Südafrika, in denen es primär um Versöhnung ging.