"Heureka!" (2)

Wie viel Schwerverkehr hält eine Brücke aus? An der Universität Wien haben die Mathematiker Hans G. Feichtinger, Saptarshi Das und Mario Hampejs einen Algorithmus entwickelt, der es u.a. erlaubt, die Lebensdauer von Brücken besser einzuschätzen. Im Interview berichten sie von ihrer Erfindung.

uni:view: Mit ihrer Erfindung optimieren Sie die sogenannte "Bridge-Weigh-in-Motion"-Technologie: eine Methode, um Kraftfahrzeuge abzuwiegen, während sie über eine Brücke fahren. Wie kann man sich das vorstellen?
Hans G. Feichtinger:
Bei der "Bridge-Weigh-in-Motion"-Technologie werden Brücken als Wiegeplattformen verwendet, indem man unter den Brücken spezielle Sensoren anbringt, um darüber fahrende Kraftwagen, hauptsächlich Lkws, zu vermessen. Bei unserer Erfindung handelt es sich um einen neuen Software-Algorithmus, der es erlaubt, die Anzahl der Fahrzeugachsen und das von jeder Achse getragene Gewicht sowie die Geschwindigkeit des über die Brücke rollenden Fahrzeugs zu bestimmen.

uni:view: Was sind die Vorteile der neuen Methode?
Saptarshi Das: In den letzten 40 Jahren wurden einige Algorithmen im Zusammenhang mit dem "Bridge-Weigh-in-Motion"-Problem entwickelt. Unsere Erfindung hat den Vorteil, dass sie keine bzw. nur sehr wenige Kalibrierungsläufe erfordert. Auch liefert unser Modell genauere Ergebnisse als bisherige Standardmethoden, da es auf den zugrundeliegenden physikalischen Vorgängen aufbaut. Alle geschätzten Parameter können physikalisch interpretiert werden. Darüber hinaus hilft unser Algorithmus dabei, die von den Sensoren aufgenommenen Messdaten besser zu komprimieren und zu speichern – und damit für spätere Entscheidungsprozesse zu sichern.


"Die Abbildung zeigt die Approximationsgenauigkeit unseres Modells für einen zweiachsigen LKW. Die punktierten Werte sind die gemessenen Sensordaten, die Linie die Modellkurve", erklärt Mario Hampejs.



uni:view: Wo wird die Erfindung hauptsächlich zum Einsatz kommen?
Mario Hampejs: Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Ein Beispiel: Überladene Lkws oder andere mehrachsige Fahrzeuge beschädigen auf Dauer die öffentliche Infrastruktur  wie Straßen oder Brücken. Problematisch ist auch, wenn die Fracht im Laderaum nicht sachgemäß über alle Achsen verteilt ist. Derzeit wird nur stichprobenartig kontrolliert, ob Lastkraftwagen sachgemäß beladen sind. Durch unseren Algorithmus sind die Sensoren in der Lage, Fahrzeuge mit Überlast oder schlecht verteilter Fracht routinemäßig zu erkennen. Gespeichert und komprimiert werden aber nur die zentralen Daten. Diese Ergebnisse sind wichtig, um die Lebensdauer der Brücken abschätzen zu können, und Entscheidungsträger können auf dieser Basis in Zukunft bessere Brücken und Infrastrukturen designen.




MEIN HEUREKA-MOMENT:
Da wir mit unserem Industriepartner eng kooperierten, hatten wir bereits jede Menge  Sensordaten von LKW-Überfahrten verfügbar. Aber selbst für ein- und dasselbe Fahrzeug waren die Unterschiede der gemessen Signale erheblich – nämlich abhängig davon, ob die Überfahrt zentral oder seitlich versetzt über dem Sensor erfolgte. Um aus den Messdaten aber auf die Fahrzeugparameter schließen zu können, war es unabdingbar, ein möglichst gutes Modell dafür verfügbar zu haben, wie die Brücke auf eine Überfahrt reagiert. Wenn wir nur wüssten, welche Signale aus der Überfahrt eines (in der Praxis nicht existierenden) einachsigen LKW resultiert, dann könnten wir jedes real gemessene Signal aus diesem "Modellsignal" zusammensetzen und dadurch die entscheidenden Parameter gewinnen. Also machten wir uns an die Arbeit und überlegten verschiedene, teils recht komplizierte Modelle (u.a. auch genetische Algorithmen). Beim Visualisieren der Kurven schlug einer unserer Kollegen aus der "Numerical Harmonic Analysis Group" plötzlich vor, doch zu versuchen, die Sensordaten mit rationalen Funktionen zu beschreiben. Als wir dann mit MatLab versuchten, diese Kurve durch eine rationale Funktion zu approximieren, waren wir über die Genauigkeit, mit der das möglich ist, verblüfft – wir hatten das richtige Modell gefunden.

Nachträglich untersuchte unsere Gruppe an der Fakultät für Mathematik, was auf der Physikebene passiert, wenn der fahrende Lkw unter verschiedenen Bedingungen wie Position, Geschwindigkeit oder Achslast Druck auf einen bestimmten Punkt der Brücke ausübt. In dieser Studie landeten wir wieder bei den rationalen Funktionen –  nun hatten wir auch den Beweis für die Richtigkeit unseres Modells.

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uni:view: Was macht Ihre Forschungsgruppe so erfinderisch?
Hans G. Feichtinger: In der "Numerical Harmonic Analysis Group" und an der Fakultät für Mathematik im Allgemeinen sind wir in vielfältigen Forschungsvorhaben aktiv, die einen direkten Anwendungsbezug haben. Wir kooperieren eng mit anderen Instituten und industriellen Partnern – diese Zusammenarbeit erleichtert es uns sehr, die auch für die Praxis relevanten Problemstellen zu erkennen und effiziente Lösungen dafür zu entwickeln. (red)


Die Brücke als Wiegeplattform: Bei der "Bridge-Weigh-in-Motion"-Technologie werden spezielle Sensoren unter Brücken angebracht, um die Lkws, die darüber fahren, zu vermessen. (Foto: Mario Hampejs)



Über die Erfinder:

Hans G. Feichtinger leitet die Forschungsgruppe NuHAG (Numerical Harmonic Analysis Group) an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Seine Gastprofessuren führten ihn u.a. an die Universitäten Connecticut, Edinburgh, und Canterbury; 2014 hat er den Jean-Morlet Chair am Centre International de Rencontres Mathématiques in Marseille inne. Feichtinger ist Herausgeber des Journal of Fourier Analysis and Applications und Präsident des Mathematischen Zirkels an der Universität Wien.

Saptarshi Das hat am Indian Institute of Technology in Bombay angewandte Statistik und Informatik studiert und 2009 an der Universität Wien promoviert. Als Postdoc der Forschungsgruppe NuHAG der Universität Wien arbeitete er u.a. am Softwareentwicklungsprojekt für die Europäische Südsternwarte ESO mit. Vormals bei der Firma Siemens und derzeit bei Shell, liegt sein Forschungsschwerpunkt in der Anwendung von mathematikschen Techniken zur Lösung von Energieproblemen.

Mario Hampejs studierte Mathematik an der Universität Wien. Als Mitglied der Forschungsgruppe NuHAG arbeitete er an Projekten im Bereich Medizin und Telekomminikation. Sein Forschungsschwerpunkt war das Entwickeln von Algorithmen im Zusammenhang mit Gabor Analysis. Derzeit arbeitet er bei der Firma Siemens im Bereich Risikoanalyse und Validierung.

Im Dossier "Heureka!" stellt das uni:view Magazin gemeinsam mit der Abteilung Technologietransfer des Forschungsservice der Universität Wien neue Erfindungen der Universität Wien vor. Zum Dossier: "Heureka!"