Henne oder Ei?

"Wir stellen die Fragen" lautet das Motto im 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien. Im Interview mit uni:view spricht Biochemikerin Renée Schroeder über ihre große Forschungsfrage "Henne oder Ei?", über den Ursprung des Lebens, manipulierte Menschen und die Evolution des Wissens.

uni:view: Frau Schroeder, Ihre große Forschungsfrage im Rahmen des 650er-Jubiläums der Universität Wien lautet "Henne oder Ei?". Können Sie kurz die Hintergründe zu Ihrer Frage erläutern?
Renée Schroeder: Die Frage hat sich in meiner Forschung entwickelt. Ich habe Biochemie studiert und bin seitdem fasziniert von den chemischen Vorgängen des Lebens. Was passiert, damit eine Zelle überhaupt lebt? Schon während meiner Doktorarbeit bin ich auf die Ribonukleinsäure als spannendes Molekül gekommen. Die RNA ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Molekül, das Leben entstehen ließ.

Wenn wir uns heute eine Zelle anschauen, dann hat die DNA die Information, und die Proteine betreiben den Stoffwechsel. Man benötigt aber Proteine, um DNA herzustellen, gleichzeitig braucht man aber die DNA, um Proteine herzustellen. Das ist die Henne und Ei-Frage. Was war zuerst da?

Und jetzt das Spannende: In den 1980er Jahren kommt ein dritter Spieler dazu, die Ribonukleinsäure (RNA). Und dieses Molekül kann beides, es kann sowohl Information in sich haben, als auch Katalyse betreiben. Relativ schnell wurde dann die Hypothese der RNA-Welt aufgestellt. Diese besagt, dass das Leben in einer RNA-Welt entstanden ist und die DNA erst später dazu kam. Wahrscheinlich haben sich Proteine und RNA zusammen entwickelt. Deswegen heißt auch meine Website "Hennei", da die RNA weder Henne noch Ei ist. Es handelt sich um ein Molekül, das beides kann. Und genau das ist mein großes Forschungsthema.

uni:view: Wird sich Ihrer Einschätzung nach an der Hypothese der RNA-Welt in den nächsten Jahren etwas ändern?
Renée Schroeder: Sie wird verfeinert. Natürlich könnte es sein, dass sie ganz verworfen wird, aber das halte ich für unwahrscheinlich. Dass es einmal eine RNA-Welt gegeben hat, in der die RNA viele Funktionen innehatte, ist ziemlich belegt und abgesichert. Ähnlich der Evolutionstheorie. Auch hier sind noch immer viele Fragen offen; gleichzeitig gibt es so viele Evidenzexperimente, dass die Wahrscheinlichkeit, die Evolutionstheorie verwerfen zu müssen, sehr gering ist. Man geht immer weiter in die Tiefe, es kommen neue Fragen hinzu, dann muss man wieder in eine andere Richtung schauen, usw. So wie Evolution stattfindet, evolvieren sich auch Wissen und Theorien.

uni:view: Was, glauben Sie, werden wir in 100 Jahren wissen?
Renée Schroeder: Ich glaube, was man sicher verstehen wird, ist das Gedächtnis. Die Neurowissenschaften werden eine der Haupt-Forschungsrichtungen der Zukunft sein. Hier sind viele wirklich große Fragen offen. Noch ist das Gedächtnis – viele sagen Bewusstsein oder auch Seele dazu – sehr mystifiziert. Wenn Sie mich fragen, ist das Denken ein rein chemisch-physikalischer Vorgang. Auch die Vererbung war früher etwas Mystisches; heute wissen wir ganz genau, was ein Gen ist und wie es weiter gegeben wird.

uni:view: Die "Entschlüsselung" des Gehirns: Kann diese Art von Wissen nicht auch gefährlich werden?
Renée Schroeder: Natürlich. Ich glaube aber nicht, dass es gefährlicher sein wird als unsere Welt heute. Man sieht ja, wie manipulierbar die Menschen sind. Denken Sie an die religiöse Demenz: Die schlimmste Waffe, die der Mensch je erfunden hat, war Gott. In dieser Form der geistigen Manipulation wird der Mensch ein absolut willenloses Werkzeug, wo er nicht mehr rational denken kann. Deswegen ist Bildung so wichtig. Ich glaube nicht, dass das Wissen um das Gehirn gefährlich wird in dem Sinn, dadurch mehr Menschen als heute manipulieren zu können.


Videoantwort von Renée Schroeder
Was ist Leben und wie ist es entstanden? Biochemikerin Renée Schroeder spricht im Video über die Frage, mit der sich seit nunmehr vierzig Jahren beschäftigt.



uni:view: Zurück zu Ihrer Frage. Wie gehen Sie als Wissenschafterin heran, sie zu beantworten?
Renée Schroeder: Ich arbeite jetzt über 30 Jahre an der Ribonukleinsäure. Wenn ich verstehe, welche Fähigkeiten dieses Molekül hat, bekomme ich ein immer deutlicheres Bild davon, wie Leben entstanden ist. Ein Thema, das mich momentan total fasziniert, sind komplexe Systeme, die sich selbst ordnen. Man glaubt, dass komplexe Systeme einen Plan, einen Kopf von außen brauchen. Aber komplexe Systeme, ob Ameisen, Bienen oder Fischschwärme, organisieren sich selbst. Und es ist ziemlich klar, dass es dabei keinen Kopf gibt. Auch das Leben braucht keinen Kontroller von Außen.

Zurzeit untersuche ich Ribonukleinsäuren, die ihre eigene Synthese regulieren, sogenannte "self regulated RNA". Das ist unsere neueste große Entdeckung, die wir publizieren wollen, was schwierig ist, weil uns das – noch – keiner glaubt. Wir gehen davon aus, dass die RNA-Kette, die gerade hergestellt wird, selbst einen Einfluss auf die eigene Synthese hat. Alles was wächst, muss sich einfach selbst regulieren können. Wir wollen eine neue, und zwar die ganz primäre Ebene, der Regulation finden. Die Idee ist, dass komplexe Systeme aus ganz einfachen Regeln entstehen.

uni:view: Wie spielt Ihre Forschung in Ihr persönliches Umfeld hinein?
Renée Schroeder: Ich unterscheide nicht zwischen Universität/Privat, Arbeit/Familie. Das ist alles eins, und es muss miteinander stimmig sein. Viele Leute haben ja mehrere Zentren, die nicht miteinander kommunizieren. So wie ich mein Arbeitsumfeld gestalte, so gestalte ich meine Familie und mein Leben. Ich arbeite auch zu Hause, man hört ja nie auf zu denken. Dinge, bei denen ich das Gefühl habe, die geben mir nichts, mache ich einfach nicht.

uni:view: Wie lässt sich Ihre große Forschungsfrage an der Universität Wien beantworten?
Renée Schroeder: Ganz toll. Wir sind eine freie Gesellschaft und das wissenschaftliche Prinzip in Österreich lautet "Bottom up", das heißt, jeder kann sich seine Forschungsidee selber ausdenken. Natürlich muss man sie finanziert bekommen und die Community überzeugen. Im Großen und Ganzen finde ich das Umfeld an der Universität Wien spannend. In den 1970er Jahren herrschten noch ganz andere Bedingungen, seitdem hat sie sich sehr gut entwickelt.

uni:view: Was wünschen Sie der Universität Wien zum 650-Jahr-Jubiläum?
Renée Schroeder: Nicht 650, würde ich sagen, für uns Frauen sind es ja eigentlich erst 118 Jahre an der Universität Wien. Ich wünsche der Universität Wien, dass sie so viel Kraft hat, sich dynamisch immer selbst zu erneuern und sie nicht von starren Strukturen blockiert wird. Sie ist ja am Weg, jetzt kommen relativ viele junge WissenschafterInnen. Hier ist es wichtig, ihnen den Boden zu bereiten, dass sie sich dynamisch entwickeln können. Ich hoffe, dass die Universität versteht, wie ein komplexes System funktioniert, und zwar mit einfachen, wenigen Regeln und keinem dominanten Kopf. Das ist für mich die ideale Universität, weil dann die Kreativität maximal ist.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!

Über Renee Schroeder:
Renée Schroeder, 1953 in Brasilien geboren, studierte von 1972 bis 1981 Biochemie an der Universität Wien. Nach der Promotion ging sie an die Universität München und danach ans Centre National de Recherche Scientifique in Gif-sur-Yvette (Frankreich). 1986 kehrte sie zurück an die Universität Wien und wurde Assistentin am Institut für Mikrobiologie und Genetik. Von 1987 bis 1989 war sie mit einem Schrödinger Stipendium des FWF in den USA. Renée Schroeder habilitierte sich 1993 an der Universität Wien und wurde 1995 Assistenz-Professorin am Institut für Mikrobiologie und Genetik. Von 2004 bis 2006 war sie Vizedekanin der Fakultät für Lebenswissenschaften und seit 2005 ist sie Leiterin des Departments für Biochemie und Zellbiologie. Im Laufe ihrer Karriere erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter Wissenschaftlerin des Jahres (2002), Wittgenstein Preis (2003), Preis der Stadt Wien für "Natur- und Technische Wissenschaften" (2005), "Großes Ehrenzeichnen für Verdienste um die Republik Österreich" (2006), "Frauenpreis" Stadt Wien (2007), Eduard Buchner Preis (2011).



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Unter den WissenschafterInnen der Universität Wien aller Epochen gibt es große Vorbilder, die dazu ermutigen, Fragen zu stellen und mit den Antworten die Welt zu verändern. Sieben ForscherInnen der Universität Wien erzählen uns stellvertretend von ihrer persönlichen Antwortsuche.
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