Grenzerfahrung

Druckfrisch: Die neue Ausgabe des Alumni-Magazins "univie" ist da. Als Vorgeschmack bringt uni:view ein Interview der Chefredakteurin Siegrun Herzog mit dem Migrationsforscher und Alumnus der Politikwissenschaft Hakan Kiliç, der derzeit in der türkisch-syrischen Grenzstadt Gaziantep lebt.

In Gaziantep an der türkisch-syrischen Grenze leben besonders viele syrische Flüchtlinge. Wie er die Situation vor Ort erlebt, erzählt Alumnus Hakan Kiliç im Interview.

univie: Wie beschreiben Sie die Situation der Geflüchteten vor Ort in Gaziantep?
Hakan Kiliç: Ich kam 2012 nach Gaziantep und konnte den Flüchtlingsprozess von Beginn an verfolgen. Anfangs dachten viele, dass der Bürgerkrieg in Syrien schnell zu Ende gehen und die Menschen bald wieder zurückkehren würden. Nun, vier Jahre später, stellt sich heraus, dass die meisten Menschen in der Türkei bleiben werden. 340.000 Flüchtlinge leben derzeit in Gaziantep, ca. 60.000 Menschen in den fünf Camps. Die größte Herausforderung ist sicherlich, die Flüchtlinge in das soziale Gefüge zu integrieren.

Da die Türkei weder eine Flüchtlings- noch eine Integrationspolitik hat, retten vorübergehende politische Maßnahmen nur den Tag – rechtliche und institutionelle Strukturen befinden sich noch in den Kinderschuhen. Rund 50 Prozent der Flüchtlinge in der Türkei sind unter 18 Jahren, davon 800.000 im Schulalter. Leider konnten bis dato lediglich 70.000 Kinder in das türkische Schulsystem integriert werden. Das heißt, dass ein Großteil der Kinder seit Jahren keine Schulbildung bekommen hat, dies wird längerfristig betrachtet massive soziale Probleme mit sich bringen.

Die Alumni Map der Universität Wien versammelt AbsolventInnen aus aller Welt im virtuellen Alumniversum – an die 6.500 sind schon dabei. In der uni:view-Serie "Von Wien nach ..." stellen wir Alumni vor, die ihr Leben fernab von Österreich verbringen.

univie: Welche Hoffnungen sind seitens der türkischen Bevölkerung mit dem EU-Türkei-Deal­verbunden? Wie wird in türkischen Medien darüber berichtet?
Kiliç: Der Deal wird stark politisiert und auch die Medien sind in politische Lager aufgeteilt. Was alle Medien berichten, ist, dass die Türkei von den westlichen Staaten allein gelassen wurde und die ganze Last alleine tragen muss. Seit Jahren nimmt die Befürwortung des EU-Beitritts massiv ab, sodass der Deal – der wahrscheinlich platzen wird – nur polit-taktische Bedeutung hat.

univie: Die Uni Wien stellt derzeit die Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" Was ist Ihre Antwort auf diese Frage? Und wie verändert Migration die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei?
Kiliç: Die Flüchtlingskrise ist eine Herausforderung, aber auch Möglichkeit, Solidarität zu zeigen und sich an die fundamentalen Grundsätze der EU zu erinnern. Menschenrechte und Demokratie können nicht nur europäisch gedacht und umgesetzt werden. Restriktive und nationale Flüchtlingspolitiken verhindern, dass die EU als Gemeinschaft agiert und offenbaren grundlegende Probleme, die bei zukünftigen Krisen den Handlungsrahmen einschränken werden. Die Flüchtlingskrise hat Europa längst erreicht und sie wird mehr schlecht als recht gehandhabt.

Der Türkei finanzielle Hilfe anzubieten, damit die Flüchtlingswelle gestoppt wird, bzw. der EU-Türkei-Rücknahmepakt, sind nicht effizient und nachhaltig durchzuführen. Die Flüchtlingskrise mit Visa-Freiheit zu koppeln ist beiderseits politisches Kalkül, den Flüchtlingen wird dabei jedoch nicht geholfen. Des Weiteren drängt die politisch unkalkulierbare Lage in der Türkei die EU – allen voran Angela Merkel – in die Ecke. Die Flüchtlingskrise zu politisieren und nur an Zahlen festzumachen, wird uns daran hindern zu sehen, dass es hier um Menschen geht.

univie: Inwiefern beeinflusst Ihre eigene Migrationserfahrung Ihr wissenschaftliches Interesse an diesem Thema?
Kiliç: Mein Vater lebt seit den 1970er Jahren in Österreich und durch die klassische Familienzusammenführung kam die Familie 1992 – ich war neun Jahre alt – nach. Die Notwendigkeit, mich wissenschaftlich mit dem Thema zu befassen, ist eng mit eigenen Erlebnissen und der Suche nach Antworten verbunden. Je mehr ich mit sozialen Fragen, die aufgrund meiner Herkunft entstanden sind, konfrontiert wurde, umso mehr habe ich mich politisch damit befasst. Als logische Folge habe ich beschlossen, nach meiner Ausbildung zum Betriebselektriker Politikwissenschaft zu studieren.

univie: Was haben Sie aus Ihrem Studium an der Uni Wien mitgenommen?
Kiliç: Ich bekam die Gelegenheit, Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und ohne Vorurteile möglichst neutral zu analysieren. Diese Kompetenzen versuche ich hier an der Universität Gaziantep auch meinen Studierenden weiterzugeben.

univie: Danke und alles Gute nach Gaziantep!

Die aktuelle Ausgabe von univie, dem Magazin des Alumniverbandes der Universität Wien ist erschienen.   
LESEN SIE AUCH: Die Redaktion von uni:view, der Online-Zeitung der Universität Wien, hat wie immer den Bereich "UNIVERSUM" im Alumni-Magazin mitgestaltet. Lesen Sie hier unseren Beitrag zur Semesterfrage "Wie verändert Migration Europa?" (Seite 18-20)

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