Die Macht der Bilder (Teil I)

Der sunnitische Islamische Staat dominiert den Norden Iraks und Teile Syriens. Für die Verbreitung seiner Ideologie nutzt er intensiv neue Medien. Der Assyriologe Michael Jursa spricht im Interview über die Macht der Bilder, Hintergründe der Kulturgüterzerstörung und die totalitäre Weltsicht des IS.

uni:view: Aktuell wird der Irak von konfessionellen Konflikten geschüttelt und dem Islamischen Staat terrorisiert. Was sind die Hintergründe?
Michael Jursa: Im Irak haben die Sunniten – eine große Bevölkerungsgruppe, aber doch eine Minderheit – speziell unter Saddam die schiitische Mehrheit vom Zugang zur Macht fern gehalten. Die Elite war sunnitisch und die Basis des Saddam-Regimes ebenso. Nach dem Sturz Saddams haben die Amerikaner natürlich die Machtposition der Sunniten massiv beschnitten. Auch der Einfluss des Iran, ein schiitischer Einfluss, ist im Irak immer stärker geworden. Das hat dazu geführt, dass die Schiiten im Aufstieg begriffen sind, während die alten sunnitischen Eliten in eine massive Krise gekommen sind.

uni:view: Was unterscheidet den sunnitischen vom schiitischen Islam?
Jursa: Die Unterschiede gehen auf eine politische Krise in der islamischen Frühzeit zurück, die zur Entstehung von zwei 'Parteien', eben den Sunniten und den Schiiten geführt hat. Diese frühe politische Trennung hat sich dann zunehmend in eine religiöse verwandelt, mit beträchtlichen Unterschieden in Tradition, Brauchtum und Rechtsprechung.

uni:view: Warum ist die Situation zwischen Schiiten und Sunniten in letzter Zeit eskaliert?
Jursa: Der Punkt ist, dass – trotz der Bevorzugung der Sunniten unter Saddam – beide Seiten bis zur amerikanischen Eroberung einigermaßen friedlich miteinander gelebt haben; so gab es zum Beispiel sehr viele Ehen zwischen Angehörigen der beiden Gruppen. Erst jetzt wird polarisiert: Man definiert sich nicht mehr als Iraki, sondern zunächst als Sunnit oder Schiitin. Das Regime von al-Maliki, dem vorletzten Premierminister, hat die amerikanische Politik der Bevorzugung der Schiiten stark weitergeführt. Der Erfolg des IS im Norden ist mit dem Gefühl der Sunniten verbunden, angesichts der neuen Rolle der irakischen Schiiten die Verlierer bei den jüngsten Entwicklungen gewesen zu sein.

uni:view: Welche Rolle spielte bzw. spielt weiterhin die vorislamische Geschichte der Region für die Konstruktion einer irakischen nationalen Identität?
Jursa: Unter Saddam hat man versucht, eine nationale irakische Identität zu konstruieren. Dazu hat sich auf die alte vorislamische Geschichte berufen, die tausende Jahre zurückgeht. Man kann ohne weiteres behaupten, dass der Irak die Wiege unserer Kultur ist – im dem Sinne, dass dort die ersten Städte entstanden sind und die Schrift erfunden wurde. Das ist ein bemerkenswertes kulturelles Erbe von globaler Relevanz. Damit haben sich viele Irakis identifiziert, nicht nur die Intelligenz. Und das will der IS natürlich nicht: Er duldet keine andere Identitätskonstruktion neben der eigenen.

uni:view: Inwiefern formt der IS muslimische Traditionen in totalitäre Weltsichten um?
Jursa: Diese Prozesse erforscht an unserem Institut Rüdiger Lohlker mit seiner Arbeitsgruppe. Der Fall der aktuellen Kulturgüterzerstörung ist ein gutes Beispiel für diese Prozesse. Der Islam hat wie andere Religionen auch eine Tradition der Bilderfeindlichkeit; im Koran gibt es Stellen, die beschreiben, wie der Prophet nach der Eroberung von Mekka ‚Götzenbilder‘ zerstören ließ. Wenn man möchte, kann man sich darauf berufen: Der IS meint, diese Koranstellen buchstabengetreu auslegen zu müssen. Das ist totalitär. Es wird keine als die eigene spezifische Weltsicht gelten gelassen – damit steht der IS außerhalb der lokalen islamischen Tradition. Die vorislamischen Monumente, die vom IS zerstört worden sind, haben bisher niemanden gestört. Der IS beruft sich also auf Elemente der Tradition, aber er dekontextualisiert sie: Das heißt, er überspringt die eigene lokale Tradition, die mit diesen Bildern keine Schwierigkeiten hat, und greift durch eine fundamentalistische Interpretation des alten heiligen Textes auf diese Motive zurück. (td)

Lesen Sie mehr: Im zweiten Teil des Interviews spricht Orientalist Michael Jursa über den IS unter Druck, warum Rauchen böse ist und die Rationalität hinter den Inszenierungen des Islamischen Staates.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Jursa ist Vorstand des Instituts für Orientalistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.