Die Emanzipation der Pflege

Am 10. September 2015 feiert das Institut für Pflegewissenschaft zehnjähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubiläums erzählt Vorständin Hanna Mayer im Interview, warum es für die Pflege v.a. in Österreich schwer war, sich als Wissenschaft zu etablieren und was die Herausforderungen der Zukunft sind.

uni:view: International ist die Pflegewissenschaft oft an medizinische Fakultäten angebunden. Warum wurde das Institut für Pflegewissenschaft vor zehn Jahren an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien gegründet?
Hanna Mayer: Zum einen hängt das mit dem komplizierten Verhältnis zwischen Medizin und Pflegewissenschaft in Österreich zusammen. Medizin und Pflege sind hier sehr hierarchisch miteinander verwoben und v.a. im deutschsprachigen Raum wurde Pflege lange Zeit nicht als eigene Wissenschaft gesehen. Zum anderen ist die Gründerin des Instituts, Elisabeth Seidl, selbst promovierte Soziologin und Psychologin, weshalb es naheliegend war, hier Fuß zu fassen. Der erste Schritt wurde bereits 1999 getan – mit der Einführung des individuellen Diplomstudiums.

uni:view: Das Diplomstudium war von Anfang an sehr begehrt …
Mayer: Ja, kurz vor 2005 waren es rund 1.500 Studierende. Das Institut wurde aus der Notwendigkeit heraus gegründet, eine eigene Verwaltungseinheit zu schaffen. Aufgrund des großen Interesses an dem Fach haben sich außerdem Stifter – wie das Rote Kreuz und die Caritas – für eine Professur gefunden. Ohne diese Stiftungsprofessur wäre das Institut wahrscheinlich nicht gegründet worden.

uni:view: Warum wurde das individuelle Diplomstudium nicht weitergeführt?
Mayer: Es war zu theoretisch ausgerichtet. International ist die Pflegewissenschaft sehr eng mit der Praxis verknüpft. PflegewissenschafterInnen sollten nach dem Studium wieder in die Pflegepraxis hineingehen – ohne Berufsqualifikation bleibt ihnen dieses Feld aber in vielen Dingen verschlossen. Und auch in der Forschung ist es ohne Praxisbezug schwierig, die richtigen Fragen zu stellen. Deshalb lautete der Auftrag an die neue Vertragsprofessur 2007, eine andere Konstruktion zu finden und bei Erfolg, die Lehre in ein Regelstudium zu überführen. 2010 wurde schließlich eine ordentliche Professur ausgeschrieben und besetzt.

Das Jahr 2015 ist nicht nur für die Universität Wien ein Jubiläumsjahr, sondern auch für das Institut für Pflegewissenschaft: Anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Instituts für Pflegewissenschaft findet am 10. September 2015 ein ganztägiges Symposium unter dem Ehrenschutz von Sozialminister Rudolf Hundstorfer im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt. Anmeldung

uni:view: Warum konnte sich die Pflege in Österreich erst so spät als wissenschaftliche Disziplin durchsetzen?
Mayer: Pflege wurde in der späten Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Hilfsberuf der Medizin konstruiert. Und überall dort, wo das Gesundheitswesen hierarchisch bzw. konservativ ist und stark an der Medizin sowie der ärztlichen Tätigkeit ausgerichtet ist, hat sich die Pflege entsprechend zögerlich entwickelt bzw. emanzipiert. Oft ist es leider heute noch so: Wenn vom Gesundheitswesen geredet wird, ist nur die Medizin gemeint. Deshalb müssen wir uns hier stärker einbringen, denn das Gesundheitssystem wird nicht allein von der Medizin getragen.  

uni:view: Sie waren maßgeblich daran beteiligt, die Pflegewissenschaft in Österreich zu etablieren. Was war ihre Motivation?
Mayer: Ich bin in meiner Ausbildung zur Krankenschwester sehr früh damit sozialisiert worden. Wir waren die erste Schule, an der Pflegewissenschaft und -forschung thematisiert wurde. Damals – in den 80er Jahren – war das etwas ganz Neues. Es hat mich fasziniert, neues Wissen generieren und weitergeben zu können. Ich habe sozusagen Blut geleckt. Für die Pflege bedarf es kluger Köpfe und der Wissenschaft, um hinter die Dinge zu schauen und Neues zu entwickeln. Wir schulden es den PatientInnen, Pflegemaßnahmen gut zu evaluieren, bevor wir sie anbieten. Während Pflege in Österreich ein Dasein als Hilfsberuf fristete, habe ich auf Konferenzen erfahren, was international möglich ist. Ich dachte: Es kann nicht sein, dass das bei uns nicht möglich ist. Seither kämpfe ich darum.

uni:view: Was hat sich mit der Gründung des Instituts in der Hinsicht geändert?
Mayer: Die Ausbildungsstruktur. Die Grundausbildung in der Gesunden- und Krankenpflege ist nun auch im tertiären System verankert. Das ist ein wesentlicher Schritt zur Akademisierung, Normalisierung und Emanzipation der Pflege. Außerdem kommen seit einigen Jahren wichtige Player des Gesundheitswesens mit Fragestellungen und Kooperationsangeboten verstärkt auf uns zu und wir werden in Entwicklungen, wie z.B. aktuell in die nationale Demenzstrategie, einbezogen. Nun bekommt Pflege hoffentlich den Stellenwert, den sie verdient.

uni:view: Was sind die größten zukünftigen Herausforderung für das Institut?
Mayer: Die eigenständige pflegewissenschaftliche Forschung und Fragestellungen weiterzuentwickeln und nicht zu schnell in der Interdisziplinarität aufzugehen bzw. an Kontur zu verlieren. Diese Gefahr besteht, wenn das Fach an sich noch nicht so gut entwickelt ist. Gleichzeitig dürfen wir uns natürlich den interdisziplinären Aspekten nicht verschließen.

Und wir müssen der Zerreißprobe standhalten: Mit wenigen Ressourcen den hohen Ansprüchen weiterhin gerecht zu werden und die Vielfalt der Themen aufzugreifen. Wir haben drei Forschungsschwerpunkte: Familienbezogene Pflege, gerontologische Pflege und onkologische Pflege. Diese mit nur einer Professur, einer Praedoc- und einer Postdoc-Stelle zu bewältigen ist schwierig. Aber das Feld ist so vielfältig und wir sind an der Universität Wien in einer Vorreiterrolle, sodass wir uns nicht nur auf ein winziges Feld konzentrieren dürfen.

uni:view: Wie verbinden Sie die Forschung am Institut mit der Praxis?
Mayer: Mit der Plattform "Dialog Wissenschaft Praxis" bringen wir wichtige VertreterInnen des Wiener Gesundheitssystems an einen Tisch. Wir tauschen gemeinsam Themen aus, entwickeln Projekte und versuchen die Ergebnisse in die Praxis umzusetzen. Außerdem haben wir viele externe Lehrbeauftragte, die einerseits WissenschafterInnen sind und andererseits in der Praxis arbeiten.

uni:view: Wie schaut Pflege in zehn Jahren aus?

Mayer: Die Menschen werden älter, die Krankheiten komplexer und chronische Krankheiten nehmen zu. Hier wird ein Mehr an kompetenter Pflege nötig sein. Die Herausforderung besteht darin, sowohl in der Ausbildung, als auch in der Praxis Schwerpunkte zu setzen. Nicht nur im reinen Akutbereich, sondern v.a. in Hinblick auf Beratung, Anleitung und Befähigung der Menschen, mit ihrer Erkrankung gut im Alltag zurechtzukommen. Dafür muss das Gesundheitssystem die Möglichkeiten schaffen.

uni:view: Inwiefern?
Mayer: Die bestehenden Strukturen sollen flexibler werden und niederschwellige Zugänge möglich sein. Für viele Dinge muss ich nicht sofort einen Mediziner oder Medizinerin bemühen: Beispielsweise bei chronischen Wunden, gewissen Symptomen bei Krebserkrankungen oder auch bei Fragen die im Zusammenhang mit dem Leben mit Demenz stehen braucht es nicht immer Hightech-Medizin. Hier kann die Pflege im Vorfeld viel tun und abfangen. Die Leute brauchen aber entsprechende Anlaufstellen dafür. Der Pflege muss die nötige Position und Kompetenz zugestanden werden – Pflegeberatung sollte über das Krankenhaus hinaus möglich sein.

uni:view: Ihre Vision für die Zukunft?
Mayer: Wenn die Qualifikation zur Pflege auf Bachelorebene gehoben wird, haben wir hoffentlich in 50 Jahren so etwas wie eine gemeinsame Ausbildung: Eine gemeinsame Studieneingangsphase für alle Gesundheitsberufe, die sich erst dann in Medizin, Physiotherapie, Pflege, Hebamme usw. ausdifferenziert. Für einzelne Bereiche, wie ethische Fallbesprechungen, sollten dann wieder alle zusammenkommen. Wir müssen endlich beginnen, in der Ausbildung die Multidisziplinärität zu leben!

uni:view: Ihr Wunsch zum zehnten Geburtstag?
Mayer: Dass sich das Institut fachlich so weiter entwickelt und Kompetenz aufbaut wie bisher, damit wir auch in Zukunft als ernstzunehmender nationaler und internationaler Ansprechpartner gesehen werden. Und, dass sich weiterhin so viele junge, von Pflege und Pflegewissenschaft begeisterte Menschen finden, die das Wissen in die Praxis tragen. Und natürlich, dass wir den einen oder anderen Stifter gewinnen können (schmunzelt). (ps)