Cyberbullying – Mobbing 2.0

Belästigt, bedroht, beleidigt, bloßgestellt – Mobbing im Internet ist keine Ausnahmeerscheinung. Um herauszufinden, was hinter diesem Phänomen steckt, sprach uni:view mit der Psychologin Christiane Spiel, die seit über 20 Jahren zum Thema Bullying und Gewaltprävention forscht.

uni:view: Das Thema Cyberbullying hat in letzter Zeit öfters durch besonders tragische Ereignisse die Gemüter erregt. Erst im August 2013 gab es in Großbritannien den Fall einer 14-Jährigen, die von anhaltenden Online-Beschimpfungen in den Suizid getrieben wurde. Wie kann man dieses Phänomen erklären?
Christiane Spiel: Mobbing – im angelsächsischen Sprachraum als "Bullying" bezeichnet – ist kein neues Phänomen, sondern wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, kann es zu Konflikten, Gruppenbildungen und zum Ausschluss von einzelnen Personen kommen. Wissenschaftlich gesehen lässt sich Bullying durch drei Merkmale definieren: Erstens passiert eine derartige Schädigung absichtlich, zweitens herrscht ein gewisses physisches oder psychisches Ungleichgewicht zwischen Opfern und TäterInnen und drittens haben wir es hier mit keiner einmaligen Angelegenheit zu tun, sondern einer Handlung, die sich über einen längeren Zeitraum zieht.

uni:view: Was unterscheidet "normales" Mobbing von Cyberbullying?
Spiel: Cyberbullying lässt sich an und für sich durch dieselben Merkmale kennzeichnen wie Mobbing. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass die Cyberversion unter Verwendung moderner Kommunikations- und Informationstechnologien geschieht.

uni:view: Ist die Bedrohung durch Cyberbullying aus Opfersicht nicht deutlich größer einzuschätzen als bei direkten persönlichen Beschimpfungen, weil sich Beleidigungen im Internet rasend schnell um den gesamten Globus verbreiten können?
Spiel: Sobald Bullying über elektronische Medien ausgeführt wird, erhält die Bedrohung für die Opfer eine vollkommen neue Dimension. Das liegt zum einen daran, dass die TäterInnen mithilfe der neuen Technologien viel mehr Schikanemöglichkeiten zur Verfügung haben. So werden etwa per Handy, Chat oder E-Mail falsche Gerüchte verbreitet, anonyme Drohungen ausgesprochen oder MitschülerInnen und LehrerInnen fotografiert. Kurze Zeit später sind die kompromittierenden Bilder dann für Millionen Menschen im Web zu sehen. Zum anderen liegt es daran, dass die Opfer keine Rückzugsmöglichkeit haben wie beim physischen Bullying und die TäterInnen die Reaktion und damit das Leid der Opfer nicht sehen können.

uni:view: Warum tut man so etwas? Was bringt einen Menschen dazu, jemand anderen derart zu verletzen?
Spiel: Sehr gut sind zwei Arten der Aggression als Ursachen untersucht: Einerseits die reaktive oder "heiße" Aggression. Diese TäterInnen fühlen sich ständig bedroht und reagieren mit Gewalt. Und andererseits die proaktive oder "kalte" Aggression. Diese TäterInnen quälen andere Personen um Macht auszuüben oder bestimmte Ziele zu erreichen. Für sie ist Bullying mit Lustgefühlen verbunden.

uni:view: Gibt es ein typisches Opfer- bzw. TäterInnenprofil?
Spiel: Mobbing ist ein Phänomen, das sich quer durch alle Altersgruppen, Geschlechter und sozialen Schichten zieht. Auch höhere Bildungsschichten sind betroffen, hier ist die Handlungsweise aber möglicherweise subtiler. Die Studien zeigen auch, dass es kaum Cyberbullies gibt, die nicht auch "traditionelle" Bullies sind, und kaum Cyberopfer, die nicht auch Opfer von "traditionellem" Bullying sind. Die neuen Medientechnologien bieten somit nur einen zusätzlichen Bullyingkanal. Im Gegensatz zum "traditionellen" Bullying, das mehr Knaben ausüben, gibt es jedoch bei CybertäterInnen und -Opfern keine systematischen Geschlechtsunterschiede.

uni:view: Wie reagieren die Opfer auf derartige Angriffe?
Spiel: Auch wenn die Reaktionen nicht einheitlich ausfallen, so schweigen doch viele sehr lange und sagen es niemandem, da sie sich genieren. Manche ziehen sich völlig zurück, leiden unter vermindertem Selbstwertgefühl, Ängsten und Depressionen. Das kann bis hin zum Selbstmord führen, wie mehrere Fälle aus den USA oder England zeigen. Ein relativ hoher Prozentsatz der Opfer wird aber auch selbst zu TäterInnen.

uni:view: Haben wir es hier mit einem globalen Problem zu tun?
Spiel: Cyberbullying kommt weltweit vor und jede Attacke im Internet ist auch global. Deshalb wird auch verstärkt auf internationaler Ebene versucht dagegen vorzugehen. Im Rahmen einer von der EU geförderten COST Action, an der sich insgesamt 28 Länder – darunter auch Österreich – beteiligten, wurde die Thematik aufgearbeitet und sowohl Guidelines für verschiedene Zielgruppen entwickelt als auch Konzepte, die positiven Aspekte der Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel gegenüber den negativen zu fördern. Ich selbst war als eines von zwei österreichischen Management Committee Members an der Initiative beteiligt und habe dazu im Vorjahr eine internationale Tagung in Wien organisiert. Damit wurde auch eine Brücke zwischen Forschung und konkreten Maßnahmen geschlagen.

uni:view: Wie schneidet Österreich im Zusammenhang mit Cyberbullying im internationalen Vergleich ab?
Spiel: Mit der Zunahme der Nutzung elektronsicher Medien hat auch die Zahl der Cybermobbing-Übergriffe deutlich zugenommen. Am stärksten betroffen sind Länder wie die USA, Kanada, Australien oder England. Eine repräsentative Begleitstudie zu PISA, die wir selbst durchgeführt haben, zeigte für Österreich, dass drei Prozent der Mädchen und elf Prozent der Knaben zwei- bis dreimal im Monat Opfer von Cyberbullying sind. Zwölf Prozent der Mädchen und 22 Prozent der Knaben gaben an, zumindest schon einmal mithilfe eines Computers oder Handys beleidigt oder verletzt worden zu sein.

uni:view: An wen können sich betroffene SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern mit ihren Fragen zu diesem Thema wenden?
Spiel: Im Zuge der nationalen Strategie zur Gewaltprävention, die ich mit meiner Kollegin Dagmar Strohmeier für das Bildungsministerium konzipiert habe, wurde die Webseite "Weiße Feder – Gemeinsam für Fairness und gegen Gewalt" gestartet. Dort finden sich zielgruppenspezifisch aufbereitete Informationen rund um das Thema Gewalt und Mobbing für SchülerInnen, Schulen und Eltern. Auf der Website werden auch nützliche Tipps und Leitfäden – z.B. "Wie spreche ich mit meinem Kind?" – zur Verfügung gestellt. Wichtig ist: Eltern müssen verstehen, dass es nicht nur darum geht, sich schützend vor das eigene Kind zu stellen, sondern auch oder vor allem darum, es zu stärken und befähigen, damit es sich selbst schützen kann. (ms)


Univ.-Prof. Dr. Dr. Christiane Spiel studierte Mathematik, Geschichte und Psychologie an der Universität Wien. Nach Stationen am Max-Planck-Institut in Berlin und der Karl-Franzens-Universität Graz leitet sie seit 2000 als Gründungsprofessorin den neu eingerichteten Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien. Von 2004 bis 2006 hat sie als Dekanin die Fakultät für Psychologie an der Universität Wien aufgebaut. Zum Lebenslauf