Buchtipp des Monats von Oliver Rathkolb

Im aktuellen Buchtipp spricht Oliver Rathkolb über die Beziehung der Universität Wien mit der Stadt Wien, seine Freude über die Umbennung von Dr. Karl Lueger-Ring in Universitätsring und gibt selbst einen Buchtipp ab.

uni:view: Kürzlich ist die Publikation "Wissens- und Universitätsstadt Wien", die Sie gemeinsam mit Hubert Christian Ehalt herausgegeben haben, erschienen. Was war die Intention des Buches, das sich mit der Beziehung der Stadt Wien und den hier ansässigen Universitäten seit 1945 beschäftigt?
Oliver Rathkolb: Die vorliegende Anthologie ist der Versuch, erstmals auf Basis von Interviews und von Beiträgen von AkteurInnen aus Wissenschaft und Politik die Entwicklung der Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Stadt Wien und den hier ansässigen Universitäten seit 1945 zu dokumentieren und  kritisch zu analysieren. Ehemalige Rektoren wurden ebenso befragt wie hochrangige Wissenschaftsfunktionäre und PolitikerInnen, um einen auch subjektiven Blick – ausgehend von den eigenen Studienerfahrungen in Wien – festzuhalten und zum Ausgangspunkt intensiverer Reflexionen zu machen. Dieser Band wird von den Herausgebern, Christian Ehalt und mir, bewusst als ein offener Reader zu einer modernen Wissenschafts(stadt)zeitgeschichte verstanden, als Beginn einer intensiveren Beschäftigung mit dem Phänomen, dass sich Stadt und Universitäten in Wien erst langsam zu engeren Kooperationen bereitgefunden haben.

uni:view: Ist Wien eine Universitätsstadt?
Oliver Rathkolb: Wien ist keine klassische Universitätsstadt, wie Göttingen oder Cambridge (Harvard University), also kleine Städte, die stark geprägt werden von der Präsenz der StudentInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen, aber vor allem aufgrund der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten werden zunehmend eine Reihe von Bezirken, die Innere Stadt, der 7., 8. oder 9. Bezirk, oder mit dem WU-Campus der 2. Bezirk, durch die Lebens- und Arbeitswelten von StudentInnen nachhaltig positiv beeinflusst. Kaum bekannt ist überdies, dass allein die Universität Wien der drittgrößte Arbeitgeber Wiens ist und somit ein wesentlicher Beschäftigungsfaktor für die Stadt geworden ist und pro Jahr mehr als 1,13 Milliarden Euro an Kaufkraft bringt.

uni:view: Nach intensiver Beschäftigung mit dem Thema: Wie sehen Sie diese Beziehung im Vergleich von damals zu heute?
Oliver Rathkolb: Die Beziehungen waren nach 1945 bis weit in die 1970er Jahre ziemlich distanziert –  mit Ausnahme von gelegentlichen Preisverleihungen der Stadt Wien an honorige UniversitätslehrerInnen oder in den 1960er Jahren anlässlich des 600-jährigen Jubiläums der Universität Wien mit Hochschuljubiläumsfonds. Der frühere Rektor Georg Winckler hat in seinem Interview sehr anschaulich berichtet, als er von seinem Besuch mit dem damaligen Rektor Tuppy bei Bürgermeister Leopold Gratz erzählt hat. Auf die Bitte von Tuppy, die Universitätsstation vor der Universität, nicht nur Schottentor zu nennen, meinte Gratz sinngemäß, dass da jeder kommen könnte. Das hat sich inzwischen sehr geändert, wie vielfältig Kooperationen und Förderungsmaßnahmen, sowie wechselseitige Kooperationen dokumentieren.

Ein wichtiger gemeinsamer symbolischer, geschichtspolitischer Schritt war vor drei Jahren die Umbenennung des Dr. Karl Lueger-Rings – aufgrund der nachhaltig antisemitischen Polemik Karl Luegers – in Universitätsring. Hier haben beide Institutionen effizient und schnell zusammengearbeitet. Er war letzten Endes ein Brief von Rektor Engl an Bürgermeister Häupl, die die seit den späten 1980er Jahren schwelende und seit 2000 intensiv gewordene Debatte zu einem wichtigen Schlusspunkt geführt hat.

Gewinnspiel

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.

1x "Wissens- und Universitätsstadt Wien. Eine Entwicklungsgeschichte seit 1945", Hrsg. Hubert Christian Ehalt und Oliver Rathkolb
1x "Der Thronfolger" von Ludwig Winder


uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?

Oliver Rathkolb:
Ich empfehle ihnen ein für einen Historiker vielleicht ungewöhnliches Buch von einem leider vergessenen Autor und Journalisten, nämlich Ludwig Winder, den Roman "Der Thronfolger", erschienen bei Zsolnay in Wien 2014.

Es ist für mich eine der wichtigsten, wenn nicht sogar der zentrale Beitrag über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, in wirklich großartiger literarischer Form. Winder hat 1937 im Schweizer Humanitas Verlag dieses Werk erstmals veröffentlicht, das in Deutschland nicht verkauft werden durfte, da der Autor als jüdisch stigmatisiert war. In Österreich kam das Verbot des Verkaufs über ein Gesetz "Zum Schutze des Ansehens Österreichs" aus 1935, da gerade eine starke Habsburger-Nostalgie in der Schuschnigg-Diktatur herrschte.

Sowohl der Roman als auch der Autor waren bis in die 1980er Jahre vergessen, können sich aber durchaus in der Qualität mit vergleichbaren Biografien von Stefan Zweig messen. Der Roman ist ausgezeichnet von der Materialbasis her recherchiert, mit einer auch sinnigen Analyse der Sozialisation, der Erziehung und des Familienumfelds von Franz Ferdinand, der eine in vielerlei Hinsicht widersprüchliche Persönlichkeit gewesen ist, wobei sein Jagdwahn nur eine von vielen komplexen Facetten gewesen ist. Trotz dieses literarischen Reenactment und der dramaturgischen Phantasie des Autors werden das soziale und kulturelle Umfeld und die Persönlichkeit wesentlich realistischer als in trockenen historischen Biographischen.

Winder, der 1889 in Schaffa/Šafov in der heutigen Tschechischen Republik geboren wurde und 1947 im Exil in Baldock/Großbritannien verstarb, ist ein  Schriftsteller jüdischer Herkunft aus dem südmährischen Raum, der bald Karriere machte und auch in der demokratischen Tschechoslowakei ein bekannter Autor war. In Österreich hingegen wurde er eher schon vor 1938 stigmatisiert und floh nach der deutschen Aggression 1939 mit seiner Familie in die Tschechoslowakei. Seine Tochter wurde im Konzentrationslager Bergen-Belsen umgebracht. Er gehört zu jener Generation von Schriftstellern, die in der Habsburger Doppel-Monarchie geboren wurden und sehr gut und umfassend recherchiert haben. In vielen Passagen finden sie die Akribie eines Karl Krauss. Der Roman ist für mich ein zentrales Werk, um das untergehende Habsburgerimperium auf der Ebene der zentralen Akteure der Familie Habsburg zu rekonstruieren und ansatzweise zu verstehen. Ich würde mir sehr wünschen, dass unsere nach wie vor zurückhaltende Historiografie zum Ende der Monarchie hier einige Anleihen nimmt. Dieses Buch gehört für mich zur Pflichtlektüre für jede/n, die/der an Österreichischer Geschichte interessiert ist.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Oliver Rathkolb:
Was bleibt, ist ein bedrückender Blick auf die Monarchie und ihre Akteure, belastet durch autoritäre Traditionen, Familienkonflikte, Fehden und der nur bruchstückhaften Erfassung der neuen Möglichkeiten, die der Gründerzeit und Erste Globalisierung den Raum gegeben haben, der sich zwar in vielen kulturellen Bereichen gegen den autoritären Druck höchst kreativ entwickelt hat, aber letzten Endes in einen völlig wahnsinnigen Krieg gestürzt hat, ohne dass nur ansatzweise die Armee dafür gerüstet war, abgesehen von den Aggressionsgründen. In der Zweiten Globalisierung ist das ein Warnsignal, wie schnell durch nicht wirklich konzise Diplomatie und Entscheidungsprozesse ein unkontrollierbarer Krieg ausgelöst werden kann. Es ist die Tragik der Geschichte, dass Franz Ferdinand zu jenen gehörte, die aufgrund der Kenntnis der Schwäche der k.u.k. Armee gegen einen Präventiv- oder Aggressionskrieg auftrat.