Buchtipp des Monats von Inci Dirim

Migrationspädagogik – heute so gefragt wie nie zuvor – steht im Mittelpunkt einer Publikation von Inci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien. Über die Hintergründe, Ziele und Inhalte spricht die Germanistin im Interview und gibt auch einen persönlichen Buchtipp ab.

uni:view: Ihre Publikation "Bachelor/Master: Migrationspädagogik" – gemeinsam mit Paul Mecheril, Maria do Mar Castro Varela, Annita Kalpaka und Claus Melter verfasst – ist aktueller denn je. Was unterscheidet, insbesondere an einer Universität, die Migrationspädagogik von herkömmlicher Pädagogik?
Inci Dirim:
Die "Migrationspädagogik" verstehe ich als eine Perspektive, mit der Fragen thematisiert werden, die für pädagogische Vorgehensweisen in Bildungsinstitutionen in einer Migrationsgesellschaft wichtig sind. Dazu gehört zum Beispiel die Frage der Beteiligung der Bildungsinstitutionen an der sozialen Positionierung von Menschen, die als solche mit und ohne Migrationshintergrund gelten. Bezogen auf mein Arbeitsfeld kann es meines Erachtens unter anderem um die Frage gehen, welche sozialen Prozesse der Konstruktion von gesellschaftlichen Wir- und Nicht-Wir-Kategorisierungen im Zusammenhang mit "Sprachförderung" stattfinden und wie man etwa Deutschförderung so gestalten kann, dass möglichst gute Fortschritte im Lernprozess ermöglicht werden, dass dieses Lernen aber nicht mit einer symbolischen oder faktischen Konstruktion der geförderten SchülerInnen als "nicht-zugehörig" einhergeht.

uni:view: Mehrsprachigkeit ist eine Art Kapital. Wie kann diese pädagogisch mehr gefördert und eingebunden werden?
Inci Dirim: Aus einer migrationspädagogischen Perspektive wäre das Wort "Kapital" vorsichtig zu gebrauchen, denn es wird im Zusammenhang mit sprachlicher Vielfalt oft auf eine solche Weise benutzt, dass der Aufenthalt von MigrantInnen in dem Migrationsland mit einer Verwertungslogik legitimiert wird, etwa mit der folgenden Argumentation: Wer seine Kenntnisse nicht für die Gesellschaft kapitalisieren kann, hat nicht das Recht, hier zu bleiben. Eine Forderung, der Menschen ohne Migrationshintergrund nicht in derselben Form und demselben Ausmaß begegnen. Aus Sicht eines individuellen Bildungsgangs der Entfaltung einer Persönlichkeit wäre Folgendes zu sagen: Eine wirklich gute Förderung der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit geht mit einer entsprechenden Ausbildung von Lehrkräften einher, die wir im Moment in Österreich leider nicht haben, und mit Unterrichtsangeboten in diesen Sprachen sowie der Nutzung der Sprachen im Zusammenhang mit dem Lehren und Lernen von Fachinhalten.  

uni:view: Wie sieht für Sie persönlich "die ideale Pädagogik" an einer Universität aus?
Inci Dirim: Hochschuldidaktik ist ein komplexes Professionalisierungsgebiet. Wenn ich Migration in den Blick nehme, fällt mir zunächst Folgendes ein: Auch Universitäten sollten sich mit den migrationsbedingten Veränderungen und Prozessen im Hochschulwesen befassen. In Österreich stellt der Migrationshintergrund einen Risikofaktor im Hinblick auf das Erlangen von Bildungsabschlüssen dar. An den Hochschulen wäre es wichtig, die Stolpersteine zu reduzieren, die sich Studierenden mit Migrationshintergrund aus dem In- und Ausland in den Weg stellen. Dazu würden vor allem kostenlose Angebote der Unterstützung bei der Aneignung von Deutsch gehören. Außerdem würde ich von DozentInnen erwarten, dass sie ihre Vorgehensweisen im Hinblick auf mögliche Rassifizierungen und Diskriminierungen überprüfen und verbessern.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.

1 x "Bachelor | Master: Migrationspädagogik" von Inci Dirim, Paul Mecheril, Maria do Mar Castro Varela, Annita Kalpaka und Claus Melter (Hrsg.), Beltz Verlag, 2010
1 x "Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" von Joachim Meyerhoff, 2015 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag


uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Inci Dirim: "Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" von Joachim Meyerhoff, 2015 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag in Köln erschienen.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Inci Dirim: In dem Buch berichtet Meyerhoff hauptsächlich von seinem Zusammenleben mit seinen Großeltern, einem emeritierten Philosophieprofessor und einer ehemaligen Theaterschauspielerin, während seiner Ausbildung an der Schauspielschule in München. Es handelt sich um eine liebe- und humorvolle Schilderung der Ansichten und Grundsätze sowie des Alltagslebens der hochbetagten Großeltern, die ihren Tag immer vor dem Frühstück mit einem Glas Sekt beginnen und vor dem Schlafengehen mit zwei Gläsern Orangenlikör beschließen. Hier eine Kostprobe aus der Darstellung der Umgangsweise des Großvaters mit Fachliteratur, mit der er sich auch im hohen Alter befasst: "Ich verstand nichts. Weder die Kommentare noch die Texte selbst. Der Großvater bewegte sich zeit seines Lebens in einer für mich vollkommen unerreichbarem Disziplin- und Ideenwelt. Er war im Vorstand verschiedener Institutionen wie der Katholischen Akademie, der Görres-Gesellschaft, des Deutschen Bildungsrates oder der Fichte-Gesamtausgabenkommission" (S. 16).

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Inci Dirim: Das Wissen darüber, dass es möglich ist, eigenen Schwächen und aus der eigenen Perspektive vielleicht bizarr oder skurril anmutenden Gewohnheiten anderer Menschen mit einer respekt- und humorvollen Akzeptanz zu begegnen und mit einer, migrationspädagogisch gesprochen, Haltung der "Fehlerfreundlichkeit" durchs Leben zu gehen.