Buchtipp des Monats von Günther Sandner

Bereits seit seiner Dissertation beschäftigt sich Günther Sandner mit dem österreichischen Nationalökonom und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath. Im Interview erzählt Sandner über seine "Beziehung" zu Neurath und empfiehlt unseren LeserInnen sein aktuelles Lieblingsbuch.

uni:view: Kürzlich ist Ihre jüngste Publikation "Otto Neurath. Eine politische Biographie" erschienen. Wie sind Sie auf das Thema und auf den Menschen Otto Neurath gekommen?
Günther Sandner: Ich bin erstmals auf Otto Neurath gestoßen, als ich mich im Rahmen meiner Dissertation mit der sozialdemokratischen Kulturbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt habe. Als Direktor des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien und als führender Arbeiterbildner spielte Neurath in dieser Zeit eine ganz zentrale Rolle. Was aber noch alles mit diesem Menschen verbunden ist, wurde mir erst später klar: Er war ein faszinierender Utopist und Ökonom, der für eine demokratisch geplante Wirtschaftsordnung eintrat, ein streitbarer Wissenschaftstheoretiker und Anti-Philosoph, der die Metaphysik aus dem wissenschaftlichen Denken verbannen wollte, der Erfinder einer Bildsprache, mit deren Hilfe das Wissen demokratisiert werden sollte, ein innovativer Soziologe, der im Rahmen seiner Lebenslagenforschung zum Vorreiter einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wurde und vieles mehr.

Und dann war da noch der "politische" Neurath, der etwa im Nachkriegsbayern 1918/19 die Wirtschaft sozialisieren wollte und nach der brutalen Niederschlagung der Revolution wegen Beihilfe zum Hochverrat verurteilt wurde. Neuraths politisch erzwungene Emigration im Februar 1934 aus Österreich bedeutete einerseits einen Bruch, andererseits war sie der Beginn der Internationalisierung seines Werkes. In den Niederlanden und vor allem in England entwickelte er sich rasch zu einem bedeutenden Intellektuellen. Doch nachdem er am 22. Dezember 1945 in Oxford gestorben war, wurde er – gerade auch in Österreich – vergessen. Erst Jahrzehnte später begann Prozess der Wiederentdeckung seines vielschichtigen Werks, der bis heute anhält.

uni:view: Wie lange haben Sie an diesem Buch gearbeitet? Welche "Beziehung" baut man zu der Person auf, mit der man sich derart ausführlich beschäftigt?
Günther Sandner: Die Beziehung, die sich im Laufe der Jahre zu dem Menschen aufbaut, über den man schreibt, gehört zu den Tücken der Biographie. Mich hat die Arbeit über viele Jahre begleitet. Im Zentrum stand ein dreijähriges Forschungsprojekt, das vom österreichischen Wissenschaftsfonds gefördert wurde. Nach der Sichtung und Durcharbeitung von Dokumenten aus rund 30 Archiven und der Lektüre von mehreren tausend Seiten von und über Otto Neurath stellt sich irgendwann das trügerische Gefühl ein, diesen Menschen auch irgendwie zu kennen. Und es hat mich vieles fasziniert: Das ungeheure Arbeitsvolumen und die wissenschaftlich-intellektuelle Produktivität beeindrucken genauso wie das fabelhafte Organisationstalent – Neurath hat auch zahllose Institutionen begründet. Oder sein ausgeprägter Humor. Ich erinnere nur an die von ihm gezeichneten Elefanten, mit denen er seine Briefe signierte. Die genaue Lektüre der umfangreichen Korrespondenzen wirft aber auch gewisse Schatten auf das Bild. Trotz der Bewunderung: Das Wahren einer kritischen Distanz ist wichtig, um nicht der "biographischen Illusion" (Bourdieu) zu erliegen. Ich denke, das merkt man bei der Lektüre auch.


GEWINNSPIEL: 
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.

1 x "Otto Neurath.  Eine politische Biographie" von Günther Sandner, Zsolnay 2014
1 x "Das große Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur" von Bernie Krause,  Verlag Antje Kunstmann 2013

http://medienportal.univie.ac.at/uniview/buchtipp-des-monats/




uni:view: Wem empfehlen Sie die Lektüre? Hatten Sie eine bestimmte Leserschaft vor Augen als Sie das Buch verfassten?
Günther Sandner: Ich habe das Buch im Grunde für alle historisch, politisch und wissenschaftlich interessierten Menschen geschrieben. Denn in Neuraths Biographie spiegeln sich die Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: 1914/18, 1933/34, 1938/39 und 1945. Neuraths intellektuelle und politische Biographie kann nur vor diesem Hintergrund gelesen und begriffen werden, aber er war eben nicht nur Objekt, sondern auch ein gestaltender Akteur. Bisher wurde das Thema Otto Neurath vor allem aus der Perspektive zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen betrachtet, in denen Neurath selbst aktiv war: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, Ökonomie, Soziologie, graphisches Design etc. Mein Buch ist die erste intellektuelle und politische Biographie Neuraths, die eine Zusammenschau bietet und darüber hinaus dem existierenden Neurathbild einige neue Kapitel hinzufügt.

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Günther Sandner: Von den Büchern, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, hat mich eines besonders fasziniert: "Das große Orchester der Tiere. Vom Ursprung der Musik in der Natur " von Bernie Krause. Es verbindet auf verblüffend einleuchtende Weise zwei Phänomene, die mich immer schon gefesselt haben: Natur und Musik.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Günther Sandner: Bernie Krause macht deutlich, welch unglaublicher akustischer Reichtum in der Natur existiert. Er hat in einer sich über Jahrzehnte erstreckenden Arbeit diese "Biophonie" dokumentiert und analysiert und damit auch ein faszinierendes wissenschaftliches Terrain erkundet. Der Vergleich der überwältigenden Klanglandschaften ursprünglicher Habitate macht freilich auch deutlich, welches Ausmaß an Zerstörung menschliche Aktivitäten verursacht haben. Das Buch ist daher gleichzeitig ein ökologisches Manifest. Es zeigt, wie massiv wir die Natur nicht nur durch den Ausstoß so genannter Treibhausgase verändern (Stichwort: Globale Erwärmung), sondern eben auch akustisch. Besonders faszinierend ist, dass viele seiner Aufnahmen der tierischen Geräusche, die er im Buch beschreibt, im Internet angehört werden können. Das ist grandios.

uni:view: Sie  haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Günther Sandner: Faszination und Nachdenklichkeit. Wir müssen mehr Sensibilität gegenüber anthropogenen Lärm entwickeln. Ich denke mir das oft, wenn ich im Hochgebirge unterwegs bin und plötzlich dröhnende und knatternde Motorräder oder Flugzeuge höre – selbst die scheinbar abgelegensten Regionen werden von uns beschallt. Das wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit Sicherheit ein großes Thema, das zu Konsequenzen führen muss –gerade auch im Hinblick auf den motorisierten Verkehr.

Der Politikwissenschafter Mag. Dr. Günther Sandner ist Research Fellow am Institut Wiener Kreis der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft und unterrichtet am Institut für Politikwissenschaft.