Buchtipp des Monats von Barbara Prainsack

Ist Personalisierte Medizin die Zukunft? Die Politologin Barbara Prainsack beschäftigt sich in ihrer aktuellen Publikation mit den ökonomischen, politischen und ethischen Fragestellungen. Einen Buchtipp für unsere LeserInnen hat sie auch parat.

uni:view: Aktuell ist Ihre Publikation "Personalized Medicine. Empowered Patients in the 21st Century?" erschienen. Können Sie kurz skizzieren, was Ihnen an diesem Thema besonders wichtig ist?
Barbara Prainsack: Die Reform des Gesundheitswesens ist eine der schwierigsten und zugleich wichtigsten Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Die Gründe dafür sind nicht die vielzitierte alternde Gesellschaft und das Anwachsen der Proportion von Menschen mit chronischen Erkrankungen, sondern auch wachsende soziale Ungleichheit. Und ein politischer Diskurs, der die Schuld für Krankheit bei der oder dem Einzelnen sucht, statt bei sozialen, ökonomischen und ökologischen Ursachen wie Umweltverschmutzung oder fehlendem leistbaren Wohnraum.

Vor diesem Hintergrund wird die Personalisierte Medizin von manchen als "Allheilmittel" gefeiert, weil sie das Versprechen birgt, Medizin präziser auf die individuellen Eigenschaften von Menschen zuzuschneiden und damit Kosten zu sparen. Gleichzeitig gibt es Gegenströmungen, die die Personalisierte Medizin als einen von kommerziellen Interessen dominierten Hochtechnologiefetischismus sehen, der den Blick darauf, was PatientInnen wirklich wichtig ist, verloren hat. Ich glaube, dass beide dieser Positionen problematisch sind.

uni:view: Worin sehen Sie die Vor- und Nachteile einer Personalisierten Medizin?
Prainsack: Einerseits birgt die Personalisierte Medizin tatsächlich die Möglichkeit, durch eine stärkere Bezugnahme auf individuelle biologische, psychologische, soziale und persönliche Faktoren zu einer besseren Medizin beizutragen, die zudem nicht teurer sein muss als das, was wir heute haben. Dazu ist es aber notwendig, nicht nur auf die Segnungen der Genomanalyse und der "Big Data"-Medizin zu vertrauen, sondern auch den persönlichen und sozialen Aspekten der Gesundheit mehr und auf systematischere Weise Bedeutung zuzumessen. Dies beginnt mit der Schaffung von Bedingungen, die es Menschen möglich machen, gut und gesund zu leben. In Großbritannien gehen mittlerweile 40.000 Todesfälle pro Jahr auf Luftverschmutzung zurück, und sowohl in Großbritannien als auch in den USA – beides Staaten mit großen sozialen Ungleichheiten – ist die durchschnittliche Lebenserwartung bereits wieder rückläufig.

Ein weiterer Bereich, der innerhalb der Personalisierten Medizin wichtiger werden muss, ist der persönliche Kontakt zwischen PatientInnen und ihren ÄrztInnen und PflegerInnen – die sogenannte "sprechende" – und, wie ich hinzufügen möchte, auch die "berührende" – Medizin. Medizin kann von sich nicht behaupten, die Person in den Mittelpunkt zu stellen, wenn niemand mehr Zeit hat, miteinander zu reden. Von empirischen Studien wissen wir, welche große Bedeutung auch die "weichen", niedrigtechnologischen Faktoren in der Medizin für die Gesundheit von Menschen haben. Dass dieser persönliche Kontakt heute oft zu kurz kommt, ist nicht die Schuld der Menschen in Gesundheitsberufen. Ursächlich dafür sind vielmehr elektronische Systeme, die die Aufmerksamkeit auf Bildschirme statt auf PatientInnen lenken, und die falschen finanziellen Anreize. Diese Dinge müssen wir ändern, wenn wir wollen, dass "Personalisierte Medizin" sich darum kümmert, was Menschen wirklich wichtig ist.

uni:view: Ist Personalisierte Medizin die Zukunft?
Prainsack: Ja, wenn wir Personalisierte Medizin als Auftrag verstehen, besser und systematischer darauf zu achten, was Menschen wirklich brauchen. Einerseits bedeutet es, wie bereits erwähnt, den Begriff der Krankheitsprävention auszuweiten: Wenn wir wissen, dass saubere Luft oder stabile und gute Wohnbedingungen unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen haben, dann müssen wir Umweltpolitik oder die Schaffung gesunden und erschwinglichen Wohnraums auch als Teile der Gesundheitspolitik betrachten. Dasselbe gilt für Wirtschafts- und Sozialpolitik: Die Vermeidung großer sozialer Ungleichheiten ist Krankheitsprävention.

Gleichzeitig bedeutet Personalisierte Medizin aber auch, dass wir den Mut haben müssen, in manchen Situationen nichts zu tun, wenn es das ist, was PatientInnen wollen oder brauchen. Die Kehrseite der großen Fortschritte in der Diagnose und Therapie, die wir glücklicherweise haben, ist das Phänomen der "Überdiagnose" und Übertherapie. Dies bedeutet, dass heute Krankheiten diagnostiziert und behandelt werden, die im Leben von Menschen keine Probleme machen würden, oder deren Behandlung Leiden vergrößert. Eine wachsende Anzahl internationaler Initiativen – z.B. "Preventing Overdiagnosis" oder "Choosing Wisely" – versuchen, dieses Problem zu lösen. Meiner Meinung nach bietet hier die Personalisierte Medizin eine Möglichkeit, nicht nur medizinische Interventionen, sondern auch medizinische Nicht-Interventionen auf die Bedürfnisse von Menschen zuzuschneiden.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek steht das Buch von Barbara Prainsack interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1x "Personalized Medicine: Empowered Patients in the 21st Century" von Barbara Prainsack
1x "Doughnut Economics" von Kate Raworth

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Prainsack: Eigentlich wollte ich ursprünglich einen Roman empfehlen, aber ich kann nicht anders als LeserInnen das Buch von Kate Raworth, "Doughnut Economics", ans Herz zu legen. Ich hatte das Buch letztes Jahr in England gelesen, als ich noch in London wohnte und arbeitete. Nächsten Monat erscheint die deutsche Übersetzung mit dem leider sehr unglücklich gewählten Untertitel "Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört". In dem Buch geht es um so viel mehr als "nur" Umweltpolitik. Menschen, die es leid sind, von progressiver Politik immer nur zu hören, was der Neoliberalismus falsch macht, bietet dieses Buch einen alternativen Entwurf einer politischen Ökonomie. Es handelt sich um eine politische Ökonomie, die nicht nach den Strukturprinzipien Wachstum und Wettbewerb organisiert ist, sondern für die das Wachstum von Sinn, Wohlbefinden und Solidarität im Vordergrund steht. Das englische Original trägt den Untertitel "Seven ways to think like a 21st century economist" – das trifft den Kern des Buches sehr gut.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Prainsack: Ich halte dieses Buch für eines der wichtigsten politischen Werke des letzten Jahrzehnts.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?  
Prainsack: Die Hoffnung, dass Kate Raworths Gesellschaftsmodell auch in Österreich Menschen zur Umsetzung einer neuen politischen Ökonomie motiviert. Interessanterweise hat die Vision einer Personalisierten Medizin, die ich am Ende meines Buches vorlege, viel mit den Werten und Strukturprinzipien, die Kate Raworth propagiert, gemeinsam. Ohne dass wir unsere jeweiligen Bücher kannten. So schließt sich der Kreis – ein bisschen wie ein "Donut". (td)

Barbara Prainsack ist Professorin für Vergleichende Politikfeldanalyse am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Medizin- und Gesundheitspolitik und Vergleichende Forschungspolitik.