Buchtipp des Monats von Andrea Komlosy

Derzeit forscht die Historikerin Andrea Komlosy von der Universität Wien an der Harvard University zur Arbeitswelt in ihren weltweiten Ausprägungen. Im Interview mit uni:view spricht sie über ihre jüngste Publikation und ihre eigene Einstellung zur Arbeit.

uni:view: Kürzlich ist Ihre Publikation "Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert" erschienen. Was fasziniert Sie persönlich an dem Thema "Arbeit"?
Andrea Komlosy: Arbeit ist eine Universalie, sie eint die Menschheit, denn niemand kann ihr entkommen. Und gleichzeitig polarisiert sie: die einen geben sie, die anderen nehmen sie, obwohl dieses Verhältnis im Begriff Arbeitgeber und Arbeitnehmer ins Gegenteil verkehrt wird. Während die einen in ihrer Arbeit aufgehen, bemühen sich andere, ihr so weit wie möglich zu entkommen. Um mit diesem Chamäleon zurande zu kommen, ist eine historische Einordnung notwendig. Um der Vielfalt der Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden, müssen wir zudem über den Tellerrand der westlichen Industriegesellschaft hinausblicken.

uni:view: Wie wichtig ist für Sie selbst Ihre Arbeit?
Andrea Komlosy: Ich bin in der privilegierten Lage, dass meine Aufgaben in Lehre und Forschung mit meinen persönlichen Interessen übereinstimmen und mir gleichzeitig Lebensunterhalt bieten. Das ist für entfremdete, noch dazu oft niedrig entlohnte ArbeiterInnen nicht der Fall. Mein Verständnis von Arbeit endet aber nicht mit Dienstschluss. Die Neugier des Forschers kennt ohnehin keinen Feierabend. Ich sehe es aber auch als eine Form von Arbeit an, wenn ich koche, putze oder eine Versammlung organisiere. Wer wenig verdient, muss mit unbezahlter Arbeit im Haushalt oder für die Gemeinschaft fehlendes Einkommen kompensieren, kann damit aber vielleicht auch Selbstbestimmung  durch Arbeit erfahren.

uni:view: In Ihrer Publikation skizzieren Sie Arbeit und deren Wandlung vom 13. Jahrhundert bis zum 21. Jahrhundert. Was hat sich – kurz gesagt – wesentlich an Arbeit global in dieser doch sehr großen Zeitspanne geändert?
Andrea Komlosy: Erstens ist langfristig eine Tendenz zur Kommodifizierung zu beobachten, es wird immer mehr für Geld und den Verkauf der Produkte auf dem Markt gearbeitet. Zweitens erlebte der Arbeitsbegriff, der bis ins 19. Jahrhundert sowohl bezahlte als auch unbezahlte, häusliche und außerhäusliche Arbeit einschloss, eine Verengung auf Erwerbstätigkeit. Drittens gibt es aber auch die ständige Notwendigkeit, Erwerbsarbeit mit un- und unterbezahlten Tätigkeiten zu kombinieren: Kinder und Küche, aber auch Reparieren, Dazuverdienen, Kreativ-Sein, Sich-Durchbringen.

Wenn diesen Tätigkeiten der Arbeitscharakter abgesprochen wird, lassen sie sich den Menschen aufhalsen, ohne ihnen dafür Anerkennung, Zeit oder Kompensation zuzubilligen. Last but not least blieb die Tendenz zur Regulierung und sozialen Absicherung von Erwerbsarbeit auf privilegierte ArbeiterInnengruppen in den Zentren der Weltwirtschaft beschränkt. Ihr steht die Informalisierung gegenüber, die im Zuge der Krise in die Zentren zurückkehrt.

uni:view: Derzeit sind Sie als Schumpeter Fellow an der Harvard University (USA). Was erforschen Sie dort?
Andrea Komlosy: Ich bin in einer internationalen Forschungsgruppe zur Globalgeschichte engagiert. Dies hilft mir, Industrie und Arbeitswelt in ihren weltweiten Ausprägungen, Verschiebungen und Verflechtungen zu begreifen.


GEWINNSPIEL
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung.
"Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert" von Andrea Komlosy



uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Andrea Komlosy: Ich empfehle das Buch "Globalia" des französischen 'Medecin sans frontieres' und Politikwissenschafters Jean-Christophe Rufin (Köln 2005). Es handelt sich um einen Science Fiction Roman in der Tradition von Orwells "1984" oder Huxleys "Schöne Neue Welt".
(Anm. d. Red.: "Globalia" ist derzeit vergriffen, daher verlosen wir stattdessen das Buch "Im Rücken ein Leopard" von Jean-Christophe Rufin)

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Andrea Komlosy: "Globalia" zeigt uns eine vermeintlich ideale Weltgesellschaft, in der es keine Nationen, keine Grenzen, keine Ethnizität, Religionszugehörigkeit oder Geschichte gibt. Stattdessen herrscht eine universelle Demokratie und Marktwirtschaft, in der keine Unterschiede der Herkunft und des Geschlechts existieren. Alle sprechen die gleiche Sprache, Anglobal. Papier und Bücher gehören ebenso der Vergangenheit an wie Leder, Fleisch- oder Zigarettenkonsum. Das Leben findet unter einem großen Klimaschild statt. Jeder ist mit einem Multifon-Apparat ausgestattet, der Zugang zu Information und Kommunikation bietet.

Die Hauptfiguren, ein junges Paar, geraten durch einen Zufall in die sogenannten Non-Zonen. Durch ihr Schicksal erfahren wir, dass Globalia nicht nur ein Ökostaat politischer Korrektheit ist, sondern jede Abweichung im Keim erstickt wird. Globalia entpuppt sich als ein Archipel, umgeben von riesigen Gebieten, die nach einer vorangegangenen "Ära der großen Bürgerkriege" verwüstet zurückblieben. Sie wurden abgekoppelt, ihre BewohnerInnen irren in stammesähnlichen Gruppen durch die Lande. Ihre Funktionalität für die "Welt" besteht lediglich in dem Feindbild, das die Identifikation der Globalier stärkt.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Andrea Komlosy: Es liegt auf der Hand, dass Rufin im Roman zuspitzt, was er in den heutigen Verhältnissen beobachtet. So werden den LeserInnen mit den Non-Zonen Brachgebiete vorgeführt, wie wir sie aus vorödeten Industriegebieten oder aus Kriegsfolgelandschaften kennen. Umgekehrt sind die aus den Auseinandersetzungen gestärkt hervorgegangenen Regionen bemüht, sich vom Elend und der daraus resultierenden Gewalteskalation abzuschotten. Rufin zeigt auf, wie die wohlstandschauvinistische Abkapselung der Zentren die Chance auf eine bessere Welt zunichtemacht. Seine Fiktion versteht sich gleichermaßen als Prognose, als Warnung und als Ermunterung zum Widerstand.