Biomedizin, Sozialwissenschaften und Genderforschung im Dialog

Forschung an der Schnittstelle von Natur und Kultur: Mit dem Workshop "Epigenetics, Society & Gender" am 22. Juni 2012 will das Referat Genderforschung einen differenzierten Dialog zwischen biomedizinischer Forschung, Sozialwissenschaften und Genderforschung an der Universität Wien initiieren.

"Bringing biology back in", so formulierte Linda Birke den Ansatz, biologische Prozesse und körperliche Materialität in der Genderforschung zu diskutieren, ohne diesen Aspekten eine vorgegebenen Essenzialität zuzuschreiben. Umgekehrt steht in der naturwissenschaftlichen Forschung die Einbeziehung gesellschaftlicher Einflüsse auf körperliche Prozesse zunehmend zur Diskussion. Embodiment-Ansätze nehmen das interagierende Netzwerk von Kultur und Natur in den Fokus und analysieren, wie Umwelt und soziokulturelle Faktoren bis tief in die Biologie des Körpers einwirken – und welche Rolle Körperprozesse umgekehrt auf soziales Handeln haben.

Veränderungen im biologischen Kern unserer Körper


Das Konzept der Epigenetik (Epi: altgriechisch auf, nach, um, herum) trifft den biologischen Kern unserer Körper: Sie erforscht potenziell vererbbare Veränderungen im Bereich der genetischen Informationen, die nicht durch eine Veränderung in der DNA selbst ausgelöst werden, sondern durch Veränderungen, die "auf" der DNA sitzen. Dabei geht es konkret um chemische Modifikationen der DNA, die regulieren, ob und wie stark ein Gen abgelesen wird – und damit mitbestimmen, wie sich genetische Information tatsächlich in die lebenden Strukturen eines Individuums umsetzt. Diese Veränderungen können sich im Körper stabilisieren, sie können aber auch reversibel sein.

Im letzten Jahrzehnt hat dieses Forschungsfeld gezeigt, wie epigenetische Modifikationen als Antwort auf die erlebte Umwelt entstehen: Studien haben sich beispielsweise damit beschäftigt, wie die Diät der Mutter eine genetische Veranlagung für Übergewicht im Embryo anschalten oder stilllegen kann oder wie sich Missbrauchserfahrungen in das epigenetische Profil des Hippocampus im Gehirn der Opfer einschreiben können.

Ethische, soziale und Gender-Implikationen

Solche und ähnliche Ergebnisse und Thesen der umweltorientierten Epigenetik lassen erkennen, dass dieses Forschungsfeld zum einen ein großes Umdenken in der Biologie bezüglich des Verhältnisses von Körper, Umwelt und Gesellschaft andeutet. Zum anderen wirft dieses Umdenken auch ethische und soziale Fragen auf.


Was bedeutet es, wenn beispielsweise ein führender Epigenetiker wie Moshe Szyf in seinem Vortrag erklärt, "fehlende Mutterliebe" verändere bei Ratten dauerhaft hunderte Gene und würde sie nachhaltig ängstlich und aggressiv machen? (Weitere Informationen)
Welche, oft vergeschlechtlichten, moralischen Implikationen werden hier in und durch die Forschung transportiert?



Gemeinsame neue Perspektiven entwickeln


Ansätze aus den feministischen Gender, Science & Technology Studies von Donna Haraway und Karen Barad liefern hier zentrale Denkanstöße, Grenzüberschreitungen zwischen Natur und Kultur jenseits traditioneller Dichotomien zu denken und Neudefinitionen von Natur und Kultur zuzulassen. Der Workshop "Epigenetik, Gesellschaft, Geschlecht" lädt ein, in einer Kooperation zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften neue Möglichkeiten zu diskutieren, wie sozio-materielle Kategorien und Faktoren (insbesondere Geschlecht) in der Epigenetik behandelt werden können.

BiologInnen, Wissenschafts- und GenderforscherInnen im Gespräch


Der eintägige Workshop, der von Sigrid Schmitz und Ruth Müller (Referat Genderforschung) in Kooperation mit Reneé Schroeder (Department für Biochemie und Zellbiologie) konzipiert wurde, richtet sich an ForscherInnen, Graduierende und Studierende aus allen Disziplinen. Besonderes Augenmerk liegt auf der Teilnahme von BiologInnen, WissenschaftsforscherInnen und VertreterInnen der Gender Studies. Dabei werden exzellente internationale WissenschafterInnen mit KollegInnen aus Wien und Österreich ins Gespräch gebracht. Eine aktive Einbeziehung von NachwuchswissenschafterInnen auf Seiten der Vortragenden ebenso wie auf jener der Teilnehmenden ist ein Ziel dieses Workshops.

Mensch und Umwelt, Natur und Kultur


Die drei Key Notes werden in diesem Sinne interdisziplinär besetzt. Eingeladen sind die Epigenetikerin Gerda Egger (Medizinische Universität Wien) der Wissenschaftsanthropologe Jörg Niewöhner (HU Berlin) und die feministische Wissenschaftstheoretikerin Martha Kenney (UC Santa Cruz), die gemeinsam mit der Molekularbiologin und Wissenschaftsforscherin Ruth Müller vom Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien vorträgt.  

Moderierte Diskussionsgruppen, die in Kooperation mit Studierenden von Sigrid Schmitz, Professorin für Gender Studies am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, im Masterstudium Gender Studies vorbereitet wurden, sollen die angesprochenen Themen in Kleingruppen vertiefen. Ziel des Workshops ist es, im reflexiven interdisziplinären Austausch neue Perspektiven auf ein Forschungsfeld zu entwickeln, das auf einschneidende Weise verändert, wie zukünftig in den Biowissenschaften und darüber hinaus das Verhältnis von Mensch und Umwelt – und damit von Natur und Kultur – gedacht wird. (red)

Workshop "Epigenetics, Society & Gender"
Freitag, 22. Juni 2012, 10 bis 19 Uhr
Campus Vienna Biocenter, 6. Stock
Dr.-Bohr-Gasse 9, 1030 Wien
Weitere Informationen und Programm (PDF)

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