Von Wien nach Äthiopien und zurück

Abermals sind wir auf dem Weg nach Mekelle in Äthiopien, um im Rahmen des von der Universität Amsterdam in Zusammenarbeit mit der Universität Mekelle durchgeführten LL.M.-Programms äthiopische Staatsanwälte und Staatsanwältinnen zu unterrichten.

Während beim ersten Aufenthalt alles noch fremd, ungewohnt und gewöhnungsbedürftig war, erscheint uns dieses Mal vieles erstaunlich vertraut. Es fühlt sich beinahe wie ein Heimkommen an. Die Studierenden sind genauso hervorragend wie die des ersten Jahrgangs. Unser Fokus liegt auf der Wissensvermittlung und darauf, die Fertigkeiten, Kompetenzen und Fähigkeiten der Studierenden zu stärken – der Intention des Programms folgend: Capacity Building vor Ort.

Capacity Building ist alles andere als eine eindimensionale Lehr- und Lernerfahrung. Insbesondere bei unseren diesjährigen Schwerpunkten "Klimaschutz" und "Flucht" lernen wir viel von unseren engagierten und klugen Studierenden. Beide Themenbereiche sind zentral für die äthiopische Gesellschaft und den äthiopischen Staat.

Umwelt- und Naturkatastrophen

Äthiopien ist von jeher von Umweltkatastrophen betroffen: Dürre und Überschwemmung sind für eines der ärmsten Länder der Welt nahezu alltäglich. Traurige Bekanntheit erlangte Äthiopien während der großen Hungersnöte u.a. in den Jahren 1972-75, 1984-85 und 2006. In einem Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt, wirken sich Naturkatastrophen besonders stark aus. Hinzukommt, dass Äthiopien eine sehr junge Bevölkerung hat, mehr als die Hälfte sind Kinder, die besonders verwundbar und von den Langzeitfolgen des Klimawandels stark betroffen sind.

Neben Unterernährung und Krankheiten häuft sich in Dürre- und Überschwemmungszeiten die Zahl der SchulabbrecherInnen, da Kinder in diesen Zeiten verstärkt an der familiären Nahrungsbeschaffung beteiligt werden. Nicht zuletzt aus diesen Gründen sind Maßnahmen gegen den Klimawandel für Äthiopien besonders wichtig. Auch bei den rezenten Verhandlungen in Paris zum Klimaschutz hat Äthiopien eine zentrale Rolle eingenommen und trat als Sprecher der afrikanischen Staaten auf.

Emotionale Diskussionen

Die Diskussionen im Unterricht verliefen entsprechend emotional. Auch eine der von uns begutachteten Masterarbeiten hat sich diesem Thema gewidmet und untersucht, wie sich der Klimawandel auf die Kinderrechte in Äthiopien auswirkt. Wichtige Forderungen der Studierenden waren, dass ihnen bei Phänomenen wie dem Klimawandel eine entsprechend größere Mitwirkungsmöglichkeit eingeräumt wird. Die Bandbreite reichte dabei von einer Stärkung der staatlichen Einflussnahme im Rahmen von internationalen Konferenzen bis zur Mitsprache unmittelbar Betroffener, insbesondere von Frauen und Kindern.

Nichtsdestoweniger sahen die Studierenden beim Klimaschutz den Westen in der Pflicht. Er habe lange vom Industriewachstum und der damit verbundenen Umweltverschmutzung profitiert, so ihre Argumentation. Auch wenn die Bereitschaft Äthiopiens zum Klimaschutz beizutragen in den Diskussionen deutlich zu erkennen war, wurde es doch als ungerecht empfunden, dass Äthiopien in seinem wirtschaftlichen Entwicklungspotential durch zu strenge Umweltauflagen beschränkt werde. Als Ausweg dachten die Studierenden, ebenso wie das offizielle Äthiopien, ein "greening of the economy" an. Sie wünschen sich bei einer solchen nachhaltigen und auf Umweltschutz ausgerichteten Wirtschaftspolitik eine Vorreiterrolle Äthiopiens.

Flüchtlingsproblematik

Auch zur Flüchtlingsthematik hatten die Studierenden viel zu sagen. Hier ist Äthiopien ebenfalls sehr betroffen. Äthiopien bietet Schutz für Flüchtlinge aus den umliegenden, krisengeschüttelten Staaten, wie Süd-Sudan oder Somalia. Trotz seiner Armut hat Äthiopien derzeit rund 700.000 Flüchtlinge aufgenommen, wenn auch nur temporär, da die meisten weiter ziehen.

Vor allem der Konflikt zwischen Eritrea und Äthiopien 1998-2000 hat zu Flüchtlingsströmen ins Ausland geführt. So verließen 1998 rund 45.000 EritreerInnen und äthiopische StaatsbürgerInnen eritreischer Herkunft Äthiopien. Auch aktuell sind die Zahlen hoch: 2014 flohen 58.000 EritreerInnen, davon knapp 37.000 in die EU und 112 nach Österreich. Von den 30.000 ÄthiopierInnen die 2014 ihr Land verließen kamen 28 nach Österreich. Äthiopien scheint in den europaweiten Statistiken nicht unter den Top 20 auf.

Globales Problem

Im Unterricht kristallisierten sich unterschiedliche Argumentationslinien heraus, wie mit der aktuellen europäischen Flüchtlingskrise umzugehen sei. Einigkeit herrschte darüber, dass die derzeitige Situation ein globales Problem darstelle. Aus der Sicht der äthiopischen Studierenden gäbe es für die Flüchtlinge eindeutig zu wenig Information über die Lage in den potentiellen Aufnahmeländern bzw. in Europa. Dieses Informationsdefizit würde die Flüchtlinge noch verwundbarer machen und den Schleppern ausliefern. Einigkeit herrschte auch bei der Beurteilung der Relevanz von Stabilisierungsmaßnahmen in den Ursprungsländern, nicht zuletzt um Fluchtgründe schon vor Ort zu minimieren.

Schließlich plädierten die Studierenden für Erstaufnahmestellen außerhalb Europas bzw. in der Region der betroffenen Staaten. Dissens herrschte hingegen bei der Frage der Rolle des Westens. Die Meinungen reichten von möglichst wenig Einmischung in den betroffenen Staaten bis hin zu einer historischen Verantwortung des Westens, nicht zuletzt aufgrund der Kolonialisierung, auch wenn Äthiopien selbst nie im eigentlichen Sinn kolonialisiert war.

Capacity Building Two Ways

Die aktuellen Probleme des Klimawandels und die Flüchtlingsthematik haben sich uns während unseres Äthiopienaufenthaltes vielschichtiger und komplexer dargestellt. Aus europäischer Perspektive blenden wir häufig die strukturellen Zusammenhänge und Gegebenheiten vor Ort bzw. in den unmittelbaren betroffenen Ländern aus. In diesem Sinne war es gerade für uns als Juristinnen, die sich mit rechtlichen Rahmenbedingungen, national wie international, auseinandersetzen, äußerst bereichernd und lehrreich, eine andere Perspektive  kennen zu lernen. Ein wahres Capacity Building in zwei Richtungen – für die Studierenden und für uns.

Dr. Christina Binder, E.MA, ist Universitätsprofessorin im Rahmen des Berta-Karlik-Programms am Institut für Europarecht, internationales Recht und Rechtsvergleichung der Universität Wien und stellvertretende Leiterin des interdisziplinären Forschungszentrums "Human Rights". Dr. Iris Eisenberger, M.Sc. (LSE), ist Universitätsprofessorin am Institut für Rechtswissenschaften der Universität für Bodenkultur.