Mehr Ressourcen, weniger Barrieren

Von einer Didaktik der Erstaufnahme bis zur grundlegenden Haltungsänderung: Am 4. Juni wurden im Rahmen des Jubiläums "20 Jahre Uni Wien Campus" Barrieren und Perspektiven für Bildung im Kontext von Flucht und Migration diskutiert.

"Wir müssen Geflüchtete als heterogene Gruppe denken" – mit diesen Worten beginnt Ínci Dirim ihre thematische Einführung. Vor dem Hintergrund, dass geflüchtete Menschen oftmals traumatische Erfahrungen gemacht haben, erläutert die Professorin für Deutsch als Zweitsprache die "Didaktik der Erstaufnahme": In bestimmten Fällen mache es Sinn, von den üblichen Systematiken der Deutschvermittlung abzuweichen.


Seit März 2010 hat İnci Dirim die Professur für Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik inne, damit war sie österreichweit die erste Professorin in diesem Bereich. (© Postgraduate Center der Universität Wien)

Missstände des Bildungssystems"Die Situation der geflüchteten Menschen sollten wir zum Anlass nehmen, die Missstände des Bildungssystems herauszuarbeiten" – mit diesen Schlussworten leitet Dirim vom Institut für Germanistik zur Podiumsdiskussion über.


Sechs ExpertInnen, ein Thema

Neben Ínci Dirim sind an diesem Abend am Podium vertreten: Jomard Rasul, Teilnehmer des Zertifikatskurses "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund" an der Universität Wien, Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin mit Schwerpunkt auf Identitäts- und Repräsentationspolitik am Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, Doris Landauer vom AMS sowie Peter Wesely vom Verein "Wirtschaft für Integration".


ExpertInnen aus Praxis und Wissenschaft diskutieren Bildung im Kontext von Flucht und Migration. Von li. nach re.: Ínci Dirim, Doris Landauer, Jomard Rasul, Hannes Schweiger, Judith Kohlenberger, Peter Wesely. (© Postgraduate Center der Universität Wien)

Durch den Abend führt Hannes Schweiger, ebenfalls vom Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache des Instituts für Germanistik. Mit der Frage, was Geflüchtete mitbringen – ein Blick also auf die Ressourcen, anstatt auf die Defizite –, eröffnet Hannes Schweiger die Diskussionsrunde.

Mit Bildung und Bildungsaspiration

Die Antwort auf Schweigers Frage kommt von Judith Kohlenberger: "Oftmals hohe Bildungsabschlüsse und der Wunsch nach Wissensaneignung". In ihrem Projekt DiPAS, das am Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital angesiedelt ist, untersucht sie den Bildungsstand geflüchteter Menschen, die 2015 größtenteils aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Österreich gekommen sind.

Rund ein Viertel der Personen verfügt über einen postsekundären Abschluss, also Matura oder einen höheren Bildungsgrad. Diese Zahlen entsprechen etwa dem Anteil von Menschen mit postsekundärer Ausbildung in Österreich. Die formalen Abschlüsse seien zwar nur bedingt vergleichbar – "natürlich sind die Strukturen und Inhalte anders" –, doch die Menschen hätten das Lernen gelernt und stellten ein Potenzial für Österreich dar, darüber ist sich das Podium einig.


"Wie können Ressourcen besser genutzt werden?" – diese Frage sorgt sowohl während der Podiumsdiskussion als auch während der Pause für viel Gesprächsstoff. (© Postgraduate Center der Universität Wien)

Andere Kompetenzen

Aufgrund dessen habe das AMS im Herbst 2015 einen Kompetenzcheck aus dem Boden gestampft, berichtet Doris Landauer vom AMS, die sich noch gut an die damaligen Herausforderungen erinnert. "Wir dürfen nicht gleich an den Kompetenzen der ankommenden Menschen zweifeln, denn ihr Potenzial ist oft sehr vielfältig", so Landauer.

sag's multi!

Peter Wesely ist als Initiator des Redewettbewerbs "sag's multi" mit dem großen Potential von Mehrsprachigkeit bestens vertraut. Er stimmt seiner Vorrednerin zu: "Die Republik Österreich geht fahrlässig mit der Lebensenergie von Geflüchteten um, insbesondere im Hinblick darauf, was dieses Land braucht."


Die Veranstaltung fand im Rahmen des Jubiläums 20 Jahre Uni Wien Campus statt und wurde von den beiden Zertifikatskursen "Deutsch als Zweit- und Fremdsprache unterrichten" sowie "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund" veranstaltet. (© Postgraduate Center der Universität Wien)

Es braucht "echte Angebote"

Lebensenergie beweist besonders Jomard Rasul, Teilnehmer des Zertifikatskurses "Bildungswissenschaftliche Grundlagen für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund". In Syrien – ein Land mit einem guten, doch höchst selektiven Bildungssystem – studierte er Physik. Nach seiner Flucht nach Wien erlebte er viele Barrieren, doch der Zertifikatskurs am Postgraduate Center der Uni Wien eröffnete ihm neue Perspektiven. Nun steht Rasul nach erfolgreicher Absolvierung des Zertifikatskurses die Möglichkeit offen, an Wiener Schulen mittels Sondervertrag Physik zu unterrichten. Ein Fach, für das in Österreich händeringend nach LehrerInnen gesucht wird.

In der Abschlussrunde wird auf den fehlenden politischen Willen der aktuellen Regierung verwiesen und und Bedarf an einer grundlegenden Haltungsänderung formuliert. Was es laut Jomard Rasul darüber hinaus braucht, um Barrieren für Menschen mit Fluchthintergrund zu reduzieren: "Echte Angebote, nicht nur Informationen."


Louis Henri Seukwa von der HAW Hamburg ist zu Gast in Wien. Mit im Gepäck hat er den Vortrag "Bildung und gesellschaftliche Partizipation für geflüchtete Kinder und Jugendliche: Herausforderungen einer kompetenzorientierten Integrationsarbeit unter erschwerter Lebenslage". (© Postgraduate Center der Universität Wien)

Integration "unter erschwerter Lebenslage"

Nach der Podiumsdiskussion übernimmt Louis Henri Seukwa, Professor für Erziehungswissenschaften an der HAW Hamburg, das Wort. In seinem Abschlussvortrag stellt er unter Berücksichtigung der "zielgruppenspezifischen Benachteiligungen" Überlegungen für die Modalitäten einer effektiven Integrationsarbeit mit Geflüchteten an. (hm)