Konrad P. Liessmann: "Die eigentliche Wissenschaft ist die Philosophie"

Am 13. April wurde Konrad Paul Liessmann 60 Jahre alt. Am 26. April wird das im Kleinen Festsaal der Universität Wien gebührend gefeiert. Im Interview spricht der Philosoph über seine Berufswahl und die Aktualität der alten Kantischen Fragen.

Herr Professor Liessmann, Philosoph ist kein Berufswunsch wie Pilot oder Polizist. Gab es ein Initialerlebnis, das Sie dafür interessiert hat?
Konrad Paul Liessmann:
Ja. Dieses Initialerlebnis war die Bekanntschaft mit einem Buch, die ich als etwa 13-, 14-Jähriger gemacht habe. In der elterlichen Bibliothek fand sich eine populärwissenschaftliche Einführungsreihe. Die Bücher trugen Titel wie: "Du und die Literatur", "Du und die Musik" und eben auch: "Du und die Philosophie". Die Geschichte von Sokrates, der aufgrund seiner Wahrhaftigkeit gezwungen wird, den Schierlingsbecher zu trinken, hat mich so beeindruckt, dass ich versucht habe, dieses Buch zu lesen. Dabei habe ich zum ersten Mal diese Namen und die Aura, die diese Namen umgibt, kennengelernt: Platon, Aristoteles, Augustinus, Hobbes, Hume, Kant, Hegel, Nietzsche ... Schon lange, bevor ich in der achten Klasse Gymnasium endlich Philosophieunterricht hatte, war das in meinem Kopf bereits ein kleines Universum, auf das ich zugesteuert bin.


Feier für Konrad Paul Liessmann anlässlich seines 60. Geburtstags
Laudationes von Michael Köhlmeier und Käte Meyer-Drawe, Übergabe der Festschrift Intellektuelle Interventionen. Gesellschaft, Bildung, Kitsch, anschließend Empfang

Freitag, 26. April 2013, 17 Uhr s.t.

Kleiner Festsaal der Universität Wien, Universitätsring 1, 1010 Wien

Kontakt: katharina.lacina(at)univie.ac.at und nora.ableitinger(at)univie.ac.at



Das Denken gilt ja als brotlose Kunst. Wie schwierig war es, Ihre Familie von Ihrer Studienwahl zu überzeugen?

Liessmann:
Das war nicht schwer. Mein Vater, der selbst kein Akademiker war, wollte mir ein Studium ermöglichen. Was ich studiere, war alleine meine Entscheidung, und ob ich davon leben kann oder nicht, war meine Sache. Viel schwerer war es, meine Lehrer davon zu überzeugen. Wir hatten in der siebenten Klasse Berufsberatung und mussten unsere Berufswünsche bekannt geben, und zwar einen "Traumberuf" und einen realistisch erwartbaren Beruf. Das war Ende der wilden 60er-Jahre, und ich habe ein bisschen eine renitente Phase gehabt. Also habe ich als Traumberuf "Zuhälter" geschrieben und als realistisch erwartbaren Beruf "Philosophieprofessor". Daraufhin bin ich als einziger der Klasse zu einem psychologischen Berufseignungstest abkommandiert worden, der aus 500 Fragen bestanden hat. Nach zehn Fragen habe ich gewusst, wie dieser Test konstruiert ist, und systematisch alle Fragen, die etwas mit theoretischer Beschäftigung und Nachdenken zu tun hatten, positiv beantwortet, und alles, was mit praktischen, technischen und sozialen Dingen zu tun hatte, negativ. Bei der Auswertung hieß es dann: "Sie können wirklich nichts Anderes studieren als Philosophie." Das hat mich in meinen ungestümen, jungen Jahren davon überzeugt, dass Psychologie keine Wissenschaft ist, und mich in meiner Meinung bestätigt: Die eigentliche Wissenschaft ist die Philosophie.

Und woran ist die Verwirklichung Ihres Traumberufs gescheitert?

Liessmann
(lacht): Dazu habe ich gar nichts getan. Das habe ich nur geschrieben, um diesen verklemmten Psychologen zu ärgern. Ich wollte provozieren. Als 17-Jähriger darf man das.

Um Ihren "realistisch erwartbaren Beruf" Philosophieprofessor ergreifen zu können, haben Sie sich an der Universität Wien für ein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie eingeschrieben. Warum haben Sie sich damals für Wien entschieden, und wie haben Sie Ihre Studienzeit in der Bundeshauptstadt erlebt?

Liessmann:
Die Entscheidung für Wien hatte pragmatische und prinzipielle Gründe: Pragmatisch, weil damals die Universität Klagenfurt auf dem Papier zwar schon existierte, es aber noch kein angemessenes Studienangebot gab. Prinzipiell, weil ich in einer Großstadt leben und studieren wollte – und da kam für mich in Österreich nur Wien in Frage. Meine Studienzeit habe ich in angenehmster Erinnerung: Ich war frei, konnte inskribieren, was mich interessierte, fand in Philosophie eine Studienordnung vor, die auf einer Seite Platz fand (in Germanistik war es ein wenig rigoroser), ich absolvierte jene Lehrveranstaltungen, die mich thematisch interessierten, und nach vier Jahren sah ich nach, ob das nun für die Erfüllung des Studienplans reichte (es war mehr als genug). Daneben fand ich genug Zeit, bis zu dreimal am Tag ins Kino zu gehen (die Filmretrospektiven der ÖH waren legendär) und ein bisschen Weltrevolution zu machen. Natürlich war Wien als Stadt damals recht trist, wenig Museen und Galerien, keine U-Bahn und kaum Fußgängerzonen, keine revitalisierten Stadtviertel – dafür aber gab es noch das Café Schwarzspanier und an jeder Straßenecke ein Kino.

Als Universitätslehrer kommen jedes Jahr neue junge Leute in Ihre Seminare und Vorlesungen. Was liegt Ihnen in Bezug auf Ihre Tätigkeit als Lehrender besonders am Herzen?

Liessmann:
Natürlich möchte ich jungen Menschen eine ordentliche fachliche Ausbildung bieten. Aber es ist mir wichtig, dass die Lehre auch spannend ist, dass ich etwas von dem vermitteln kann, was mich selbst an der Philosophie und am Philosophieren fasziniert. Mein Ideal der akademischen Lehre ähnelt dem von Friedrich Schleiermacher, der einmal gesagt hat, in einer Vorlesung gehe es darum, die HörerInnen an der Entwicklung des Denkens teilzuhaben zu lassen. Wichtig ist mir aber, das ich selbst auch etwas erfahre: wie junge Menschen denken, wie sie ihr Fach sehen, wie sie die Welt sehen. Das unterscheidet ja die Universität von einer reinen Forschungseinrichtung: Dass wir junge Menschen in die Wissenschaft einführen, an die Wissenschaft heranführen, aber dabei auch für unser eigenes Schreiben, Lehren und Denken immer wieder angeregt und herausgefordert werden.

Die Themen, zu denen Sie als Referent oder Diskutant eingeladen werden, reichen von der Oper bis zum Geld und von der Ästhetik bis zum Fußball. Gibt es auch Themen, für die Sie sich nicht zuständig fühlen?

Liessmann:
Das gibt es ganz sicher. Ich bin etwa vor kurzem eingeladen worden, eine Stellungnahme abzugeben zu philosophischen Konsequenzen der Quantentheorie. Dem habe ich mich verweigert, da ich mich nie intensiv damit beschäftigt habe. Die Paradoxie, dass sich die Philosophie auf der einen Seite genauso wie alle anderen Wissenschaften immer mehr spezialisiert und auf der anderen Seite als Grundlagen- und Deutungswissenschaft immer die Totalität des Lebens zum Gegenstand hat, fühle ich in mir selber als Widerspruch. Einerseits habe ich viel über spezielle Fragestellungen der Ästhetik, die Philosophie des 19. Jahrhunderts oder über Nietzsche, Kierkegaard oder Adorno gearbeitet, auf der anderen Seite habe ich auch diesen Impetus, dass Philosophie tatsächlich der Versuch ist, wie das Hegel einmal so schön formuliert hat, die Zeit, in der man lebt, in Gedanken zu fassen. Mein Leben besteht aus Neuen Medien, aus Kunst, aus gewandelten Vorstellungen von Sexualität, Familie und Gesellschaft, aus den Umbrüchen nach 1989. Mein Leben besteht auch aus der Frage, was bedeutet Geld und warum vernebeln die Bankenkrisen unser Denken? Wenn ich den Anspruch habe, mich philosophierend, reflektierend dem Leben zu stellen, kann ich gar nicht anders, als über diese Fragen nachzudenken, und irgendwie spielt Fußball in meinem Leben eben auch eine Rolle. Als Philosoph denkt man dann mitunter auch einmal darüber nach, welche Ethik sich hinter der Abseitsregel verbirgt. Das halte ich für durchaus legitim und produktiv.

Was sind Ihrer Meinung nach die brisantesten gesellschaftlichen Fragen, in denen heute die Philosophie die größte Rolle spielt?

Liessmann:
Es sind immer die alten Kantischen Fragen. "Was kann ich wissen?" Alle Fragen der Wissens- und Informationsgesellschaft über prinzipielle Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, darüber, wie sich Wissen gleichsam automatisieren und industrialisieren lässt und wie das mit der Idee von Bildung zusammenhängt, sind philosophische Fragen, die zu ganz zentralen Fragen unserer Gesellschaft geworden sind. Oder die zweite Kantische Frage: "Was soll ich tun?" Der ganze Bereich des Handelns, der Ethik, ist ja verschärft worden, weil wir zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Verantwortung übernehmen müssen für etwas, das wir nicht mehr erleben werden – vom radioaktiven Müll bis zum Klimawandel. Und die dritte Kantische Frage: "Was darf ich hoffen?" Das wäre als die Sinnfrage zu bezeichnen, die Suche nach Transzendenz, nach Glück. Die ganzen Debatten, die wir gegenwärtig über Renaissance oder Nicht-Renaissance von religiösen Konzepten führen, die ganze Konfrontation einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft mit religiösen Kulturen, wie sie der Islam repräsentiert, hat mit dieser Frage zu tun. Das muss doch jeden wachen Zeitgenossen interessieren, und das interessiert natürlich auch den Philosophen.

Interessiert das auch die PolitikerInnen, denen ja immer kurzfristiges, visionsloses Handeln vorgeworfen wird? Gibt es PolitikerInnen, mit denen Sie gerne diskutieren?

Liessmann:
Ich diskutiere gerne mit PolitikerInnen. Natürlich! Weil mich das Feld der Politik einfach interessiert. Politik ist der Ort, an dem über das Gemeinwohl entschieden wird. Mich interessiert aber auch der Umgang mit Macht und mit Machtlosigkeit. Politik ist ja nicht der einzige – war sie nie, aber heute weniger denn je – Ort der Macht. Zwar sind PhilosophInnen keine Politikberater, aber bestimmte Fragen, die in der Philosophie diskutiert werden, schlagen sich – mitunter erst Jahrzehnte später – auch politisch nieder: denken Sie an die Gender-Debatte, den Europa-Diskurs, die Menschenrechte, die Debatten der Aufklärung oder um Gewinn oder Verlust individueller Freiheitsräume, wie sie durch unser von moderner Technik bestimmtes Kommunikationsverhalten gesellschaftlich akut werden, die in der Philosophie aber schon viel früher thematisiert worden sind.

Sie haben für das nächste "Philosophicum Lech" mit Richard David Precht und Robert Pfaller auch zwei Philosophen eingeladen, die zu hoch präsenten Medienfiguren geworden sind: Sie schauen gut aus und haben zu allem etwas zu sagen. Wie wichtig und wie gefährlich ist es, sich der Medienmaschinerie auszusetzen?

Liessmann:
Die Gefahr, als PhilosophIn einer Medienmaschinerie ausgesetzt zu sein, die einen verschlingt, ist nicht sehr groß. Das Non-Plus-Ultra, wozu es ein/e PhilosophIn bringen kann – das haben Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski gezeigt, und das hat jetzt Richard David Precht geschafft – ist, dass man ungefähr viermal im Jahr nach Mitternacht eine Stunde lang im Fernsehen philosophieren darf. Das halte ich eigentlich nicht für DIE große Attacke der Medienwelt auf die Philosophie. Wenn durch so eine Sendung auch nur zehn Menschen sich für Philosophie zu interessieren beginnen, hat das Medium hier seinen Zweck erfüllt. Dass natürlich die Gesetze des Mediums, was Telegenität, Aussehen und Aura betrifft, hier zum Tragen kommen, ist selbstverständlich. Ich persönlich arbeite deshalb viel lieber für den Rundfunk als fürs Fernsehen. Hier zählt nur die Stimme, das Wort. Wenn jemand breiten Erfolg hat, gibt es natürlich in der PhilosophInnenzunft sofort heftige Auseinandersetzungen, ob das seriös ist, ob das vertretbar ist.

Auch Sie sind immer wieder zu Debatten eingeladen. Es heißt, wenn Sie dabei sind, muss man als MitdiskutantIn besonders auf der Hut sein. Man weiß nie, aus welcher Ecke Sie argumentieren werden, denn Sie checken erst einmal die Lage und suchen sich jenen Punkt, wo die anderen am besten zu treffen sind. Wie flexibel sind Sie bei den von Ihnen vertretenen Meinungen?

Liessmann:
Ich gebe offen zu, dass das für mich ein wesentliches Moment ist: Es soll nicht langweilig sein. Es wäre ja unsinnig so zu tun, als wüsste man nicht, dass solche Diskussionen natürlich auch von Spannungselementen, Konfrontationen, zugespitzten polemischen Argumentationen leben. Ich habe im Laufe meines Lebens genug Philosophie inhaliert, um zu wissen, dass es für viele Positionen, die durchaus kontrovers sind, gute Argumente gibt. Ich gebe zu, dass mich die Rolle des Advocatus Diaboli immer fasziniert hat: das zu verteidigen, was die Mehrheit für belanglos, erledigt, hinfällig, inaktuell und falsch hält. Wenn man gegen einen allgemeinen Konsens argumentiert, muss man allerdings seine eigenen Argumente schärfen. Das ist eine Herausforderung, der ich mich sehr gerne stelle. (Wolfgang Huber-Lang, APA/ms, red)

Univ.-Prof. Mag. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft. Sein inhaltlicher Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich "Philosophie und Öffentlichkeit", vor allem auf Fragen der Ästhetik, Kunst- und Kulturphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts sowie der Bildungstheorie. Seit 1996 ist er wissenschaftlicher Leiter des "Philosophicum Lech" und Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe, seit 2010 Vizepräsident der "Gesellschaft für Bildung und Wissen" und seit 2011 Vizepräsident der "Deutschen Gesellschaft für Ästhetik".
Im Laufe seiner Karriere wurde er mit zahlreichen Preisen und Auszeichnung geehrt: Wissenschaftspreis der Stadt Wien (1989), Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik (1996), Kulturpreis der Stadt Villach (1998), Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln (2003), Österreichischer "Wissenschafter des Jahres 2006", Sachbuchpreis "Danubius" (2010), VIZE 97 der Dagmar und Vaclav Havel Foundation Prag (2010).

Akademische Geburtstagsfeier für Konrad Paul Liessmann anlässlich seines 60. Geburtstags
Freitag, 26. April 2013, 17 Uhr s.t.
Kleiner Festsaal der Universität Wien, Universitätsring 1
1010 Wien

Weitere Informationen und Kontakt: katharina.lacina(at)univie.ac.at und nora.ableitinger(at)univie.ac.at