In memoriam Pavol Winczer (1935-2014)

Pavol Winczer, emeritierter Professor des Instituts für Slawistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, ist am Donnerstag, 28. August 2014, im Alter von 79 Jahren verstorben. Ein Nachruf.

Pavol Winczer wurde im Jahre 1992 als ordentlicher Professor auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Westslawische Literaturen berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2003 tätig war, 1994-1996 auch als Vorstand des Instituts für Slawistik. Von zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen außerhalb der Universität sei nur die Aufnahme Winczers als auswärtiges Mitglied in die Polnische Akademie der Wissenschaften und Künste im Jahre 2004 genannt.

Dem Slawisten und Komparatisten Winczer war die Mehrsprachigkeit sozusagen in die Wiege gelegt. 1935 geboren, wuchs er in einer deutschsprachigen Familie in Käsmark/Kežmarok in der slowakischen Zips auf, in der Schule lernte er slowakisch. Später kamen das Polnische und das Tschechische dazu: Die ersten Nachkriegsjahre verbrachte der Schüler Winczer in einer polnischen Kleinstadt; das Studium der Polonistik und Russistik absolvierte er in Prag, den anschließenden zweijährigen Militärdienst in Nordböhmen. Ebenso vielseitig wie seine sprachliche Kompetenz war Winczers Interesse an der Kunst – es galt nicht nur der Literatur, sondern auch allen anderen künstlerischen Ausdrucksformen, insbesondere der Musik, der bildenden Kunst und dem Film.

Seine berufliche Laufbahn begann Winczer als Verlagslektor in Bratislava, ab 1963 gehörte er dem Institut für Weltliteratur der Slowakischen Akademie der Wissenschaften an, als dessen Vizedirektor er 1992 nach Wien wechselte; er war seinen humanistischen Idealen in den schwierigen Jahren nach der Niederschlagung des Prager Frühlings treu geblieben – und erwies sich im übrigen auch nach 1989 als aufgeklärter Staatsbürger, der die Entwicklung der slowakischen Gesellschaft kritisch verfolgte.

Die zentralen Forschungsschwerpunkte des Literaturwissenschafters Winczer waren die polnische, tschechische und slowakische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Seine Fragestellungen waren gleichermaßen von poetologischen wie von historischen, komparatistischen und literatursoziologischen Interessen bestimmt. Besonders intensiv widmete sich Winczer dem Verhältnis zwischen Hochkultur und Trivialliteratur, zwischen nationaler und übernationaler Kultur sowie Fragen der historischen Poetik und der Ideengeschichte; seine Buchpublikationen sind den literarischen Strömungen in der polnischen, tschechischen und slowakischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der dichterischen Avantgarde und den literarischen Strategien des Autors in der Kommunikation mit dem Leser gewidmet. Winczer hat der Literatur aber nicht nur als Wissenschafter, sondern auch als Rezensent, Herausgeber und Übersetzer große Dienste erwiesen.

Zu den Aufgabenbereichen in Winczers universitärer Lehre zählten Vorlesungen zur Geschichte der westslawischen Literaturen, thematische Seminare zu einzelnen Epochen, Strömungen oder Gattungsfragen sowie die Betreuung von Diplomarbeiten und Dissertationen. Legendär waren Winczers mündliche Prüfungen: Er erwartete auch von den Studierenden, dass sie, ausgehend von einer aufmerksamen Lektüre und präzisen Textanalysen, tief in literatur- und kulturhistorische, aber auch in literaturtheoretische Fragen vordringen.

Mit Pavol Winczer verliert die slawistische Fachwelt einen unermüdlichen Forscher, der kein Freund von oberflächlicher Präsentation oder Repräsentation war. Er schätzte die fundierte wissenschaftliche Diskussion höher als Titel und Ämter, sein erstes Interesse galt stets der Sache – die Objekte seiner Aufmerksamkeit waren dabei von erstaunlicher Vielfalt. Die außergewöhnliche Fähigkeit Winczers zur gründlichen geistigen Durchdringung und seine Beharrlichkeit im Denken mögen uns allen ein Vorbild bleiben.

Gertraude Zand für das Institut für Slawistik an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät