In memoriam Norbert Leser (1933-2014)

Die Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft verliert mit Norbert Leser einen politischen Denker, der die österreichische Politik mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und kommentiert hat. Der bekannte Sozialphilosoph verstarb am 31. Dezember 2014 81-jährig in Eisenstadt. Ein Nachruf.

Norbert Leser wurde am 31. Mai 1933 in Oberwart (Burgenland) geboren und starb am 31. Dezember 2014 in Eisenstadt. Sein Vater war der Landesbeamte Franz Leser, seine Mutter die Schriftstellerin Jolanthe Leser, geb. Tarnai; sein Onkel Ludwig Leser war sozialdemokratischer Politiker und erster burgenländischer Landeshauptmann nach 1945.

Der Verstorbene studierte Rechtswissenschaften und Soziologie an der Universität Wien, u.a. bei August Maria Knoll und wurde 1958 promoviert. Im Jahr 1969 habilitierte er sich an der Universität Graz am Institut für Rechts- und Staatsphilosophie. René Marcic berief ihn 1971 an den neu geschaffenen Lehrstuhl für Politikwissenschaft in Salzburg; 1978 wurde er auch Honorarprofessor für Politikwissenschaften an der Universität Wien. Ab 1980 hatte Leser das Ordinariat für Gesellschaftsphilosophie und Hermeneutik am Institut für Philosophie der Universität Wien inne und hielt bis zu seiner Emeritierung 2001 sehr gut besuchte Lehrveranstaltungen. Daneben leitete er das Ludwig-Boltzmann-Institut für neuere österreichische Geistesgeschichte, war Präsident des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa sowie bis zum Tod Präsident des von Leo Gabriel gegründeten Universitätszentrums für Friedensforschung. Im Jahr 2008 hielt er seine geistreich-humorvolle Abschiedsvorlesung.

Leser hatte eine Vorliebe für die Konfliktdemokratie, wie sehr auch sein Mentor Marcic für die Konsensdemokratie plädierte, und war besorgt, dass eine zu lange Koalition der österreichischen Großparteien den geistigen Diskurs bremsen könnte. In der Sozialphilosophie vertrat er die Position eines christlichen Personalismus und betonte die Rolle von Recht und Ethik als Basis von Staat und Gesellschaft. Wichtig war ihm der intellektuelle, gewaltlose und respektvolle Diskurs, der auch Humor einbeziehen kann, um einen Fortschritt des Geistes zu bewirken und nicht zuletzt als Motor einer gut funktionierenden Demokratie dient. Diese Überzeugung teilte er mit vielen Größen wie Kelsen, Fraenkel, Popper etc., doch bei ihm gesellte sich eine theologische Komponente dazu. Damit setzte er die Tradition seines Lehrers Knoll fort, der nach dem Krieg das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes mitbegründete und lehrte, dass auf die Verankerung der Person in Humanismus und Religion zu achten sei, um die Menschen und die Gemeinschaft vor individualistischer bzw. kollektivistischer Intoleranz, vor Gewalt und Extremismen zu schützen.

Leser war überzeugt, dass die Philosophie auch in unserer Zeit an der philosophia perennis anknüpfen könne und solle. Philosophie war für ihn kein Selbstzweck, sondern sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft wichtig; Sozialphilosophie verstand er als Brücke und Vereinigung zwischen den Sozialwissenschaften und der Philosophie. Er war fasziniert vom Geistesleben und hielt den Geschichtsablauf für beeinflussbar von Persönlichkeiten, die den Mut haben, Wahrheiten auch gegen den Zeitgeist auszusprechen. Im Geiste antiker Vorbilder riet er den politischen und wirtschaftlichen Eliten zu mehr Bescheidenheit; jenen aber, die den Weg in Politik und Wirtschaft nur gehen, um Geld und Macht zu vermehren, warf er vor, die sozialen Werte zu verraten. Wie er einen ethischen Materialismus sub specie aeternitatis für falsch hielt, so auch den philosophischen Materialismus.

Das wissenschaftliche Werk Norbert Lesers war von außerordentlichem Umfang und besonderer interdisziplinärer Bandbreite. Das Hauptforschungsgebiet war die österreichische Sozialdemokratie und der Austromarxismus; daneben beschäftigte er sich auch mit der Parteiendemokratie, dem Katholizismus, der Gottesfrage, dem erkenntnistheoretischen Problem des Reduktionismus, der österreichischen Zeitgeschichte, Gesellschafts- und Religionsphilosophie und Wissenschaftstheorie. Immer wieder kam Leser auf die österreichische Sozialdemokratie zurück, welche er trotz seiner bekennenden Sympathie mit wissenschaftlich-kritischem Blick analysierte. Das Bild vom "Salz der Gesellschaft" (Wien 1988, 416 Seiten), das er auf den Sozialismus anwandte, verstand er als bewusste Anspielung an das biblische Bild vom Salz der Erde, dem Symbol für die Gemeinschaft der Christen, da er überzeugt war, dass die soziale Idee eine metaphysisch-religiöse Fundierung besitzt.

Zahlreiche Bücher Norbert Lesers sind erschienen, darunter 20 Monographien und noch mehr von ihm herausgegebene Sammelwerke bzw. andere Bände; zahlreiche Aufsätze erschienen in wissenschaftlichen Publikationen und Zeitschriften unterschiedlicher Fachrichtungen sowie in Qualitätszeitungen. Sein Hauptwerk "Zwischen Reformismus und Bolschewismus." (Wien 1968) gilt bis heute als Standardwerk. Sein letztes Buch erschien 2013 unter dem Titel "Gott lässt grüßen. Wider die Anmaßung des Reduktionismus und Evolutionismus", unter Mitwirkung von Paul R. Tarmann und mit einem Geleitwort des Quantenphysikers Anton Zeilinger, der ihn zu diesem Buch anregte. Bereits zu seinem 50. Geburtstag füllte die Liste seiner Publikationen ein kleines, von Georg G. Rundel zusammengestelltes Buch mit über 500 Schriften. Anfang 2003 wurden bereits ca. 900 gezählt und zuletzt waren es hochgerechnet über 1.000 Schriften in mehreren Sprachen, z. B. auch Englisch und Ungarisch.

Leser erhielt zahlreiche Preise und Anerkennungen, unter anderem den Dr.-Karl-Renner- Publizistikpreis des Österreichischen Journalisten-Clubs, den Theodor-Innitzer-Preis, er war Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse und Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er erhielt im Jahr 1999 den Preis der Stadt Wien für Geisteswissenschaften und wurde einer der bedeutendsten Geisteswissenschafter der Zweiten Republik Österreichs genannt.

Ich möchte mich an dieser Stelle beim verstorbenen Norbert Leser für den persönlichen und wissenschaftlichen Kontakt bedanken. Mit ihm durfte ich jahrzehntelang zusammenarbeiten, als Assistent, Kollege und Freund. Er hatte große Freude mit der Festschrift "Die Macht des Geistes", an der zahlreiche Wissenschafter mitarbeiteten und die ich ihm zum 70. Geburtstag überreichen konnte. Zehn Jahre später referierte er zu meinem eigenen 70. Geburtstag; der Band, u. a. mit seinem Beitrag, hrsg. v. Paul R. Tarmann, erschien ein paar Wochen vor seinem Tod.

Der Tod des 81-Jährigen kam trotz einiger Altersleiden überraschend, da er bis zuletzt in der Öffentlichkeit präsent war. Seine beiden letzten Beiträge waren eine ausführliche Einschätzung der aktuellen Lage der SPÖ, erschienen in der Presse vom 28. 11. 2014, sowie ein Essay über den Urgrund der Wirklichkeit, der im Extra der Wiener Zeitung posthum am 03. 01. 2015 erschienen ist und dort als sein Vermächtnis bezeichnet wird. Nach seinem Tod wurde er – wie nur wenige Wissenschafter – in so gut wie allen österreichischen Medien ausführlich gewürdigt.

Norbert Leser wird in den Wissenschaften weiterleben.
R. I. P.

Erwin Bader für das Institut für Philosophie der Universität Wien