In memoriam Friedrich Schaller (1920–2018)

Friedrich Schaller, langjähriger Professor für Allgemeine Zoologie an der Universität Wien, ist am 5. Mai im Alter von 97 Jahren verstorben. Ein Nachruf von Hannes Paulus vom Department für Integrative Zoologie.

Friedrich Schaller wurde am 30. August 1920 als Sohn des Volksschullehrers Nikolaus und seiner Ehefrau Dorothea Schaller geboren. In Bamberg besuchte er das Humanistische Gymnasium, wo ihm – wie er selbst in seiner Autobiographie im Jahre 2000 geschrieben hatte – die Grundlagen für eine umfassende geistes- und gleichzeitig naturwissenschaftliche Ausbildung zuteil wurden. An der Universität Wien studierte er Zoologie, Botanik, Paläontologie, Anthropologie, Bodenkunde und Philosophie.

Dabei hatte er das große Glück, innerhalb weniger Studienjahre einigen der herausragenden Wissenschafter der damaligen Zeit begegnen zu dürfen, die sein eigenes wissenschaftliches Denken, Arbeiten und Lehren nachhaltig beeinflussen sollten. Im Fach Zoologie waren das der Physiologe und Mitbegründer der Theoretischen Biologie, Ludwig von Bertalanffy, der Begründer der vergleichenden Physiologie der Tiere, Wolfgang von Buddenbrock, der Verhaltensforscher und spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz, Hermann Weber, der mit seinem Lehrbuch der Entomologie und seinen bis heute begeisternden Zeichnungen bekannt wurde, der Wirbeltiermorphologe Wilhelm Marinelli und Wilhelm Kühnelt, einer der Begründer der Bodenbiologie.

Weitere Personen, die Schaller in seiner Bildung und Ausbildung beeindruckten und damit förderten, waren u.a. der Botaniker und Blütenbiologe Fritz Knoll oder der Paläontologe Othenio Abel. Alle haben im Leben und in der wissenschaftlichen Arbeit von Friedrich Schaller Spuren hinterlassen, was in der Vielfalt seiner Interessen und der Vielseitigkeit seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten und der seiner Schüler deutlich zum Ausdruck kommt. Seine systematische und ökologische Prägung erfuhr er durch seinen Doktorvater Wilhelm Kühnelt. Seine funktionsanalytische Denkweise wurde ganz wesentlich durch Wolfgang von Buddenbrock geschult. Beiden verdankte er den Zeit seines Lebens ungebrochenen Hang zur "Freiland"-Zoologie, den er auch den meisten seiner späteren Schülern mitgegeben hat.

Friedrich Schaller im Alter von 87 Jahren (Tagung der Österreichisch-Entomologischen Gesellschaft in Kremsmünster Oktober 2007). (© ZOBODAT)

Unmittelbar nach dem Krieg war Schaller zunächst freier Mitarbeiter bei dem Ökologen, Systematiker und Parasitologen Hans Jürgen Stammer in Erlangen, aus dessen Schule auch der spätere berühmte Evolutionsbiologe Günther Osche hervorgegangen ist. Im Herbst 1945 holte ihn von Buddenbrock erst nach Marburg und 1946 an die neue Universität in Mainz. Schaller habilitierte sich dort 1950 im Fach 'Zoologie und vergleichende Physiologie'. 1956 wurde er apl. Professor. 1958 folgte er im Alter von 37 Jahren einem Ruf auf den Lehrstuhl für Zoologie in Braunschweig. Kurze Zeit später wurde er hier in Personalunion Direktor des Naturhistorischen Museums. Es folgten Rufe an die Universitäten München, Gießen und Erlangen. Der Berufung als Nachfolger von Prof. Dr. Wilhelm Marinelli an die Universität Wien im Jahr 1967 gab Friedrich Schaller jedoch den Vorzug. Damit hatte sich der Kreis zwischen Studium und späterem Lehrstuhl für Allgemeine Zoologie in Wien geschlossen.

Nach fast 20 Jahren akademischer Tätigkeiten ließ er sich 1986 emeritieren, und zwar, wie zu vermuten war, rechtzeitig und nicht vorzeitig. Rechtzeitig in dem Sinn, dass er sich mit seiner Schaffenskraft, entbunden von den Verpflichtungen an der Universität – so wird Emeritus zwar verstanden, doch heißt es nach Stowasser eigentlich ausgedient(!) –, noch genügend dem widmen konnte, was er sonst aus Zeitmangel nur schwer hätte tun können. Denn ausgedient hatte er, wie seine bis zu seinem späten Tod anhaltenden zahlreichen Aktivitäten gezeigt haben, bei weitem noch lange nicht. Schaller hat sich auf verschiedenen Gebieten der wissenschaftlichen Zoologie durch ganz außergewöhnliche Leistungen hervorgetan. Eine seiner bekanntesten Entdeckungen war die indirekte Spermatophoren-Übertragung bei Collembolen (Abb. 2). In der Weiterführung dieser Beschäftigung entstanden eine ganze Reihe weiterer Dissertationen.

Abb. 2: Die von Schaller entdeckte indirekte Spermatophoren-Übertragung bei Collembola: a. Gestielte Spermatophore von Orchesella, b. Orchesella-Weibchen bei der Aufnahme einer Spermatophore, c. Podura aquatica: Ein Männchen (weiß) schubst das Weibchen von hinten und umläuft es anschließend, d. in der weiteren Folge setzt das Männchen mehrere Spermatophoren neben dem Weibchen ab und schiebt es dann in deren Richtung (verändert aus Schaller 1971).

Er hat ständig neue Forschungsgebiete aufgegriffen, ohne dabei die altbewährten aus dem Auge zu verlieren. Auf diese Weise hat er sich, in Verbindung mit einer sehr umfangreichen und breit ausgerichteten Lehrtätigkeit, zu einem Gelehrten entwickelt, der – wie kaum ein anderer – das Gesamtgebiet der Zoologie noch zu erfassen und mit bewundernswerter Integrationsfähigkeit in Forschung und Lehre zu vertiefen vermag.

Seine Ziele im wissenschaftlichen Streben suchte Schaller stets nicht so sehr in der ständigen Verfeinerung, der Exklusivität der Methoden oder durch immer mehr in die Tiefe einer bestimmten Gruppe von Fragestellungen zu gehen. Ihm ging es, so wie es oft auch bei den damaligen berühmten Wissenschaftern üblich war, wie Karl v. Frisch, Wolfgang v. Buddenbrock und Konrad Lorenz, mehr um die Entdeckung des Grundsätzlichen als um die ständige Quantifizierung dessen, was qualitativ oft ganz offenkundig ist. Seine Fragestellungen waren stets geradlinig, in ihrer Klarheit oft verblüffend einfach und manchmal dem Anscheine nach geradezu trivial. Dabei verstand es Schaller, die 'richtigen Fragen' immer auch an die 'richtigen Objekte' zu stellen, was ohne seine ganz ungewöhnliche Formenkenntnis nie denkbar gewesen wäre. Er gehörte zu den Wissenschaftern, die danach strebten, grundsätzlich Neues zu entdecken. Das ist einerseits ihm und auch seinen zahlreichen Schülern mehrfach gelungen, denen er gelegentlich lediglich zu sagen pflegte, "dass müsse man mal genauer untersuchen". Tatsächlich verbarg sich jedoch dahinter oft genug der Weitblick des Wissenden, der die mögliche wissenschaftliche Tragweite der zu erwartenden Ergebnisse richtig einzuschätzen in der Lage war.

Schaller hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, Übersichtsreferate und Buchbeiträge geschrieben. Die Zahl seiner Doktoranden liegt weit über 100. Viele von ihnen hat er auf eine wissenschaftliche Umwelt 'losgelassen' und rund 20 seien – so meinte er in seiner Autobiographie nicht ohne Stolz – inzwischen selbst akademische Lehrer und ihrerseits ebenfalls mehr oder weniger erfolgreiche Doktorväter. Zu solchen Schülern gehören oder gehörten allein an der Universität Wien u.a. Prof. Dr. Walter Hödl, Prof. Dr. Günther Pass, Prof. Dr. Kratochvil. Auch ich selbst promovierte 1970 bei Schaller über die Ultrastrukturen von Collembolenaugen. Nach 17 Lehrjahren bei dem Evolutionsbiologen Prof. Dr. Günther Osche in Freiburg kehrte ich 1991 als sein Nachfolger an die Zoologie in Wien zurück. Dort wurde ich 2013 emeritiert. Als Nachfolger benannte Prof. Dr.Dr. Andreas Wanninger das Department für Evolutionsbiologie wieder in Integrative Zoologie um.

Bekannt wurde Schaller, wie schon erwähnt, vor allem durch seine Entdeckungen der 'indirekten Spermatophorenübertragung' bei Collembolen, weitergeführt durch zahlreiche Schüler auch bei Dipluren, Archaeognatha, Zygentoma, Myriapoden, bei Skorpionen und anderen Spinnentieren. Dabei zeigte sich, dass es dabei geradezu als 'allgemeines biologisches Prinzip der Fortpflanzung vorwiegend bodenlebender Arthropoden’ verbreitet ist. Auch die Ökologie dieser Tiere und ihre Beteiligung an der Humusbildung war ein frühes Werk von Schaller. Selbst auf dem Gebiet der Bioakustik sind Schaller herausragende Entdeckungen gelungen. Hervorgehoben sei vor allem der endgültige Nachweis, dass Nachtschmetterlinge mit ihren Tympanalorganen Ultraschall hören können und sich dank dieser Fähigkeit dem Zugriff von Fledermäusen mit guten Chancen entziehen können. Immer wieder hat er weitere interessante Entdeckungen initiiert, so u.a. das Weibchenschema bei heimischen Leuchtkäfern. Schaller hat sich als erster mit dem optischen Verhalten des Heuschreckenkrebses Squilla beschäftigt, dessen Augen später wegen der unglaublichen Sehleistungen Furore gemacht haben. Immer zog es Schaller aber zu der Tiergrüppe zurück, mit der er seine Laufbahn begonnen hatte, zu den Collembolen, den Springschwänzen. Es wurden mehr als 25 Dissertationen über Collembolen fertiggestellt. Seine Entdeckungen und die seiner Schüler haben natürlich schnell Eingang in die gängigen Lehrbücher der Zoologie gefunden. Dabei gelang vor etlichen Jahren auch die Aufklärung der Fortpflanzungsbiologie des Gletscherflohs (Isotoma saltans), einer der bekannten Vertreter dieser Tiergruppe und später sogar der Nachweis von Spermatophoren bei den an extrem wechselhafte Milieubedingungen angepaßten 'Cryptopygen' (Cryptopygus antarcticus), die Friedrich Schaller 1989 von einer Antarktis-Expedition mitgebracht hatte.

Viele dieser neuen Befunde sind in dem Buch "Die Unterwelt des Tierreichs", auch einem interessierten Laienkreis bekannt geworden.

Schaller hatte daneben eine Leidenschaft, die ihn mit seiner Frau, seinen Kindern, seiner Cousine, mit seinen Schülern und Kollegen mehrfach rund um die Erde, in alle Erdteile und fast alle Länder dieser Welt und wenn möglich, auch auf zünftige Berge geführt hat. Schon im Jahre 2000 nennt er bereits 1148 Gipfel zwischen 2000 und fast 6000 m, gewissenhaft aufgelistet in seiner Autobiografie, darunter Matterhorn, Monte Rosa, Mont Blanc, Ätna, Ararat (Anatolien), Kinabalu (Borneo), Kilimandscharu und Kamerunberg, daneben aber auch kleinere 'Erhebungen', wie den erst nach dem Zerfall der DDR (Wende) zugänglichen 'Brocken'. Weitere Berge finden sich im 2. Band seiner Autobiografie.

Seine ganz besondere Liebe galt darüber hinaus den tropischen Regenwäldern, vor allem am Amazonas, wo er auf mehreren Forschungsreisen, wiederum mit Kollegen und Schülern, wertvolle Erkenntnisse über Biologie und Ökologie von Ringelwürmern, Insekten, Tausendfüßern, Fischen und Amphibien sammelte und viele Mitarbeiter zu eigenständigen Forschungen begeisterte, darunter Walter Hödl mit seinen und der seiner Mitarbeiter Untersuchungen zur Lautbiologie tropischer Frösche.

Neben der Qualifikation als Wissenschafter und akademischer Lehrer hat Prof. Schaller auch in seinen sonstigen Aktivitäten weit über seine Universitäten hinaus Wirkungen erzielt, die seinem Engagement auch für die "Zunft" als Ganzes entsprangen. So war er zwischen 1962 und 1966 Vorsitzender des Verbandes Deutscher Biologen. Von 1972 bis 1974 leitete er als Präsident die Geschicke der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, acht Jahre lang war er Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Bereits in Braunschweig amtierte er als akademischer Pressereferent seiner Technischen Hochschule. Als Museumsdirektor hatte er eine Fülle öffentlichkeitswirksamer Aufgaben zu übernehmen. Die Wiener Zoologie verdankt es auch seinem sehr energischen Einsatz, dass nach einer langen Planungs- und Bauphase ein großzügiges Biologiezentrum mit einem Zoologischen Institut entstehen konnte. Dank der fortschrittlichen Weiterentwicklung des universitären Standortes Wien, wurde auch dieses zu klein, so dass gerade ein neues Gesamt-Zoologisch-Biologisches Institut im Werden ist.

Wo so viel Leistung über die Jahrzehnte erbracht wurde, blieben Ehrungen selbstverständlich nicht aus. Die Braunschweiger Wissenschaftliche Gesellschaft wählte Schaller schon 1964 zu ihrem 'Ordentlichen Mitglied'. Von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde er zum 'Korrespondierenden Mitglied' ernannt. Die Fakultät für Naturwissenschaften und Mathematik der Universität Ulm verlieh ihm 1987 den Titel eines Ehrendoktors. 1994 erhielt er die Fabricius-Medaille, die höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie, 1995 in Gold die Gregor Mendel - Medaille der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und 1998 den Ernst Jünger-Preis für Entomologie des Landes Baden-Württemberg. Zu seinen runden Geburtstagen gab es etliche "Nachrufe". Einige mehr sind weiter unten im Text genannt.

Schaller im Alter von 92 Jahren (Emeritierungs-Symposium von Prof.Dr.Hannes F. Paulus in Wien am 27.9.2012). (© privat)

Schaller war Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften, darunter die "Zoologica", ein Fachjournal, das vor allem für umfangreiche Gesamtwerke gedacht ist, eine in unserer schnelllebigen Zeit eher aussterbende Kategorie. Ich habe die Ehre, auch hier als sein Nachfolger die Zeitschrift mit Erfolg weiterzuführen.

Schaller ist Autor einer ganzen Reihe sehr persönlich gefärbter Vorträge und Publikationen. Zu nennen wäre hier u.a. "Der Mensch als Naturkatastrophe (1993)", Rede zur 8. Dekade: "Geriatrische Laienrede für Jüngere" (2003). "Daten und Gedanken aus Anlass meines 90. Geburtstages (2011)", "Nüchterne Betrachtungen zum Lebewesen Homo 'sapiens'" (2012). Diese kann man mit Genuss, aber auch mit Stirnrunzeln, auf jeden Fall mit Gewinn lesen. "Jeder Hymnus auf diesen sprachgewaltigen, wortsensiblen, alles kritisch hinterfragenden, großen Biologen und Reimakrobaten muss schlicht in Befangenheit münden – auch wenn er von heiligem Eifer getragen ist", formulierte zu seinem 95. Geburtstag das Professoren-Ehepaar Aspöck. Berühmt sind/waren seine alljährlichen "Gereimtes zum Jahreswechsel", die er seinen Freunden, Bekannten und Briefwechselpartnern zukommen ließ. Meist nahm er hierbei Stellung zu aktuellen Zeitläufen oder Reisen, oft genug mit faktisch-ironischen Hintergedanken, die diese Gedichte neben ihrer Reimqualität so lesenswert machten.

Bereits zu seinem 90. Geburtstag am 30.8.2010 fasste er seine Daseinsbegründung in der typisch Schallerschen Formulierungsart zusammen:

"Einer, der schon früh erkannt und begriffen hat, dass auch der Mensch nur als Lebewesen real und sinnvoll sein und wirken kann, hat kein Problem mit seiner irdischen Endlichkeit, noch dazu wenn er diese nunmehr mit 90 Lebensjahren bewusst betrachten darf. Er blickt zufrieden auf seine drei Lebensphasen (Jugend, Erwachsensein, Alter) zurück. Als rationaler Naturforscher weiß er, wo er herkommt und hin-'gehen' wird, auch wenn er nicht wissen kann, warum und wozu. Sinn jedenfalls hat sein Dasein nur (gehabt) als Mitmensch, und als solcher hat er seine animalischen Pflichten vergnügt erfüllt: als Mitglied seiner wechselnden Volksgemeinschaft, als neugieriger Wissenschaftler und als stolzer Familienvater."

Er reflektierte also schon früh seine "Erfüllte Endlichkeit", die für ihn als Agnostiker vor allem in der Nutzung seiner Fähigkeiten und Weitergabe seiner Erfahrungen ohne jede Transzendenz bestanden hat. So ist er nun am 5.5.2018 in seiner Wohnung in Wien friedlich einschlafend gegangen, vergessen wird er ganz sicher nicht.

em.o.Univ.Prof. Dr. Hannes F. Paulus
Department für Integrative Zoologie