In memoriam Anneliese Schnell (1941-2015)

Das Institut für Astrophysik der Universität Wien trauert um Anneliese Schnell, die am 14. Juli 2015 im Alter von 73 Jahren unerwartet verstorben ist. Ein persönlich gefärbter Nachruf von Werner W. Weiss.

Die Nachricht vom Ableben von Frau Oberrat Dr. Anneliese Schnell am 14. Juli erreichte uns am Institut völlig überraschend und tief bewegend.
Noch nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst im Jahre 2006 war Anneliese Schnell  nicht aus dem Institutsgeschehen wegzudenken. Nahezu täglich war sie in ihrem Büro anzutreffen, wo sie sich in den letzten Jahren intensiv mit Untersuchungen zur Geschichte der österreichischen Astronomie beschäftigte, insbesondere der von Wien. Und "täglich" heißt tatsächlich auch an Sonn- und Feiertagen!

Hier eine Würdigung des Schaffens von Anneliese Schnell zu geben, wäre gar nicht so schwer, hat sie doch erst vor sechs Jahren für das Buch von Angetter & Pärr: "Blick zurück ins Universum. Die Geschichte der österreichischen Astronomie in Biografien" ihre ausführliche Biographie vorgelegt. Für einen umfangreichen Nachruf würde lediglich der Abschluss fehlen. Es sei daher darüber hinausgehend gestattet, auch persönliche Erinnerungen einzubringen, die vermutlich besser die liebenswerte Persönlichkeit von Anneliese Schnell in Erinnerung rufen als ein rein formales Aufzählen von Fakten.

Anneliese Schnell wurde am 19. Dezember 1941 in Wien geboren. Ihr Elternhaus war für sie, ihre Schwester und ihren Bruder ein Hort der Geborgenheit. Ihre Mutter widmete sich liebevoll der Familie und ihr Vater, ein Lehrer, ging schließlich als Stadtschulratspräsident in Pension. Nach ihrer Matura, 1959, begann Anneliese Schnell eine Ausbildung für das Lehramt, und zwar für Mathematik und Physik. Schicksalhaft wurde dabei die physikalische Pflichtvorlesung: Einführung in die Astronomie, gehalten vom damaligen Direktor der Universitätssternwarte, Univ. Prof. Dr. Josef Hopmann. Ab 1961 studierte Anneliese daher auch Astronomie, und da traf ich sie zum ersten Mal in verschiedenen Vorlesungen, die ich als außerordentlicher Hörer, und ordentlicher Hörer an der Technischen Universität Wien, besuchte. Schon damals fiel sie mir durch ihre Frohnatur und Hilfsbereitschaft auf. Es gab damals keine digitalen elektronischen Projektoren, vulgo Beamer, sondern das Epidiaskop war der letzte Stand der Technik. Hier mussten synchron zum Vortragenden Bücher umgeblättert und entsprechende Abschnitte an die Wand projiziert werden – Anneliese war immer gerne hilfreich zur Stelle.

Ihre Liebe zur Astronomie fiel auch dem damaligen Observator, Hofrat Dr. Thomas Widorn, auf, der neben seiner Aufgabe als Bibliothekar der Sternwarte auch am 40cm Spiegelteleskop in der Nordkuppel der Sternwarte mit einem damals sehr modernen Photomultiplier-Photometer Lichtkurven von veränderlichen Sternen beobachtete. Widorn war es auch, der als erster Kleinplaneten und Planeten im Infrarot photometrierte: damals wenig gewürdigt, heute hochmodern. Und so wuchs Anneliese schnell in die beobachtende Astronomie hinein, was auch durch Publikationen dokumentiert ist.

Mit Dienstantritt des neuen Sternwartedirektors (1962 – 1979), Univ. Prof. Dr. Joseph Meurers, wurde die Anbindung der Studentin Schnell an die Universitätssternwarte (später Institut für Astronomie, seit wenigen Jahren Institut für Astrophysik) immer intensiver.  Sie begann mit einer Dissertation über "Systematische Bewegungseffekte in Geschwindigkeitsfeldern", die sie 1967 mit ihrer Promotion zum Dr.phil. abschloss. Zuvor, 1966, noch als Dissertantin, wurde sie wissenschaftliche Hilfskraft, wie es damals geheißen hat. Heute würde sie als Studienassistentin bezeichnet werden. Und hier vorweggenommen, 1967 wurde Anneliese Hochschulassistentin (damals noch nicht gendergerecht als ‚Hochschulassistent’ bezeichent) , 1977 in der Nachfolge auf den Dienstposten von Univ. Doz. Dr. Thomas Widorn wissenschaftlicher Oberkommissär, 1978 Rat und schließlich 1982 Oberrat.

Mit Professor Meurers trat die Sternwarte in eine neue Phase ein, und man kann ihn wohl rechtens als deren Neubegründer bezeichnen. Er führte auch eine demokratische Institutsstruktur mit seinen Mitarbeitern ein, nämlich die "Gelehrtenrepublik", die noch heute Vorbildcharakter für die Universität haben sollte. So gab es jede Woche eine Institutskonferenz, in der nahezu alle, die Sternwarte betreffenden Entscheidungen – mitunter kontroversiell – besprochen wurden. An vielen Samstag Vormittagen lud Meurers das Team in seine Wohnung zu technischen Diskussionen ein. Anneliese war immer dabei und wurde bald zur rechten Hand Meurers’. Sie war gewissermaßen die Außenministerin des Institutes. Dabei war es hilfreich, dass sie schon kurz nach der Promotion mehrere Monate am Karl Schwarzschild-Observatorium in Tautenburg, damals DDR, verbrachte, dabei  verschiedenste Beobachtungsmethoden an modernen Geräten erlernte und auch mit dem damaligen Direktor, Nikolaus Richter, publizierte. Weiters war sie mehrmals zu Beobachtungen am Observatorium Hoher List der Universität Bonn (Waltraud C. Seiter), am Astronomischen Institut der Universität Basel (Wilhelm Becker) und auch am Konkoly Observatorium Budapest (Bela Szeidl).

Alle diese Kontakte (und viele mehr) waren äußerst hilfreiche Beiträge für das Einbinden der Sternwarte in den internationalen Kontext und die Modernisierung der Forschungskonzeptionen in Wien. Ein wichtiger Schritt war die Gründung der Außenstation im Wienerwald, das Leopold Figl Observatorium für Astrophysik (FOA), an dem Anneliese nach dessen Eröffnung im Jahr 1969 zahllose Beobachtungsnächte verbrachte, insbesondere nachdem der 40cm Nordkuppelreflektor 1979 durch ein modernes 60 cm RC Teleskop ersetzt und als erstes Computer gesteuertes Teleskop in Österreich am FOA aufgestellt worden war. Nach dem 1976 pensionierten Observator Widorn wurde der aus den USA kommende, allerdings aus Graz stammende Univ. Prof. Dr. Alois Purgathofer ihr neuer Mentor in Fragen astronomischer Beobachtungen. Viele Publikationen mit ihm belegen dies, zum Beispiel eine Sequenz von Arbeiten zur Nova PU Vulpeculae. Das völlig überraschende Ableben von Alois Purgathofer im Jahr 1984 während eines Beobachtungsaufenthaltes am Observatorium Calar Alto traf Anneliese sehr tief, wie dies dem von ihr verfassten Nachruf zu entnehmen ist.

Weitere Forschungsarbeiten von Anneliese Schnell umfassen Zentralsterne Planetarischer Nebel, chemisch pekuliare Sterne und Doppelsterne. Im Rahmen eines umfangreichen Projektes zur Photometrie und Astrometrie enger, aber  optisch aufgelöster Doppelsterne, von Univ. Prof. Dr. Karl Rakosch initiiert und mit dem von ihm entwickelten Area Scanner durchgeführt, war sie eine der ersten aus der Gruppe, die 1975 am damals bewunderten Mauna Kea Observatorium, Hawaii, beobachten konnte. Beobachtungsruns bei der ESO folgten später und rundeten ihre Arbeiten am FOA ab.

Das Büro, vulgo Außenamt, von Anneliese war ein soziales Zentrum der Sternwarte, und viele Mitarbeiter und Besucher tranken dort regelmäßig starken Kaffee und rauchten Zigaretten. Einer dieser Besucher war Univ. Prof. Dr. Friedrich Hecht, wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, alias Manfred Langrenus, Science Fiction Buchautor (z.B.: Das Reich im Mond). Als Vorsitzender der Gebäudekommission der Universität Wien war er in Auf- und Ausbau des FOA involviert. Für seine positive Einstellung zum FOA wird die gastfreundliche Atmosphäre des "Außenamtes" nicht unwesentlich beigetragen haben.

Auch wurden in dieser administrativen Schaltzentrale der Sternwarte die jährlich in den Mitteilungen der Astronomischen Gesellschaft publizierten Jahresberichte von Anneliese zusammengestellt und im Namen des Direktors abgeliefert. Selbstredend war sie ebenso für den Großteil der Öffentlichkeitsarbeit zuständig, beantwortete Anfragen und hielt populäre Vorträge. Eine logische Konsequenz war dann 1993 ihre Aufnahme in das Herausgeberteam der von Profis und Amateuren gleichermaßen geschätzten Zeitschrift "Die Sterne", wo sie bis 1996 verblieb. Als diese Zeitschrift nach der deutschen Wiedervereinigung 1997 mit "Sterne und Weltraum" fusionierte, war sie in dessen Herausgeberteam bis 2008 tätig.

Über viele Jahre, gewissermaßen als Erbschaft von Dr. Thomas Widorn, betreute Anneliese die Institutsbibliothek, bis Dr. Gerhard Polnitzky, im Jahr 1974 eingestellt, ihr Nachfolger in diesem Amt wurde. Die Liebe zu Büchern ließ sie nicht mehr los, und man konnte bis zur Umwandlung unserer Institutsbibliothek in eine digitalisierte Fachbibliothek der Universität von Anneliese selbst in anscheinend aussichtlosen Fällen Hilfe erwarten, wenn es darum ging, ein selten verwendetes Buch, "versteckt" in der 2. Reihe, im Winkel ganz oben, wieder zu finden.

Hilfsbereitschaft zeichnete sie generell aus, auch gegenüber von Studierenden, die sie gerne zu Beobachtungen am Teleskop mitnahm oder denen sie im Rahmen des Anfängerpraktikums erste Einführungen gab. Unvergesslich ist für mich die Selbstverständlichkeit, mit der sie einem Kommilitonen (nomina sunt odiosa) die Dissertation mit der Schreibmaschine auf Wachsmatrizen übertrug. Xerox, digitale Textverarbeitung, Laserdrucker etc. gab es damals noch lange nicht!

Wer jemals für eine internationale Konferenz verantwortlich war, kann die Leistung von Anneliese Schnell auch auf diesem Sektor würdigen. 1969 organisierte sie ein wissenschaftliches Symposium anlässlich der Eröffnung des FOA, und ihr oblag auch die Redaktion der Tagungspublikation, vulgo Proceedings, in den Annalen der Universitätssternwarte. Nur drei Jahre später, 1972, war sie für die Durchführung der Jahrestagung der Astronomischen Gesellschaft in Wien verantwortlich, der ersten nach dem 2. Weltkrieg. Gesellschaftlicher Höhepunkt dieses astronomischen Großereignisses in Wien war die Exkursion zum FAO mit anschließendem Empfang beim Landeshauptmann von Niederösterreich im Stift Klosterneuburg.

Eine Randnotiz dazu: Während wir Tagungsteilnehmer uns am ausgezeichneten Buffet und an hervorragendem Wein erquickten, war Anneliese auf der schwierigen Suche nach zwei verschollenen Astronomen, die meinten, in der Dämmerung vom FOA zu Fuß den Berg hinuntergehen und auf den Transport durch die wartenden Busse verzichten zu können.

Trotz all dieser Anstrengungen half Anneliese 1980 auch bei der Organisation des IUE Data Reduction Workshops mit und ebenso beim Publizieren der Tagungsberichte. Ohne ihre Hilfe und umfangreiche Erfahrung hätte ich 1975 die erste Konferenz der Internationalen Astronomischen Union in Österreich, das IAU Colloquium Nr. 32, (Physics of Ap-Stars), nicht problemarm durchführen können. Die letzte Tagung, zu deren Erfolg Anneliese wesentlich beitrug, war 2008 das Sonderkolloquium zur Geschichte der Astronomie "400 Jahre Fernrohr – der Beitrag Europas" im Rahmen des Joint European Meeting und der Tagung der Astronomischen Gesellschaft (JENAM 2008).

Selbstverständlich wurde man auch international bald auf diese kompetente und aktive Wissenschafterin aufmerksam, und so wurde Anneliese Schnell 1974 als erste Frau (!), und ohne eine Institutsleitung inne zu haben (!!), in den Vorstand der Astronomischen Gesellschaft gewählt, wo sie bis 1980 verblieb. Ihre inzwischen intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Astronomie führte von 2007 bis 2014 zum Vorsitz des Arbeitskreises der Astronomischen Gesellschaft für Astronomiegeschichte, dem sie bereits seit 1993 angehörte. Gesellschaftspolitisch relevant war ihr Einsatz an der Universität als von der Fakultät 1995 entsandtes Mitglied des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen, wo sie 2001 auch den Vorsitz führte. Dieser Auftrag entsprach dem für sie charakteristischen starken Gerechtigkeitsempfinden.

Wie schon erwähnt, war Anneliese immer an historischen Fragen interessiert. Beiträge zu Biografien verschiedener Astronomen finden sich daher auch in ihrer Publikationsliste. Mit Johann Palisa (1848 – 1925) war ein Schwergewicht auf dem Gebiet der Kleinplanetenforschung an den Sternwarten von Pula und dann seit 1880 in Wien gegeben. Er entdeckte 121 Kleinplaneten, deren Namensgebung Anneliese Schnell für das "Dictionary of Minor Planet Names" mühevoll recherchierte. Diese sehr aufwändige Arbeit wurde 1991 durch die Benennung des Kleinplaneten mit der provisorischen Bezeichnung 1950DL als "Annschnell" (Nr. 2572 in der Liste der benannten Kleinplaneten mit bekannten Bahnen) gewürdigt. Ihr Schriftenverzeichnis umfasst schließlich insgesamt 52 Titel.

Alle diese Tätigkeiten wurden 2007 seitens der Universität durch Verleihung des Goldenen Ehrenzeichens in einem sehr stimmungsvollen Festakt gewürdigt. Das Goldene Ehrenzeichen der Universität Wien wird an Persönlichkeiten, die besondere Verdienste in den an der Universität Wien vertretenen Wissenschaften erworben haben, verliehen.

Die Nachricht von ihrem plötzlichen Ableben wurde von einem Mitarbeiter so kommentiert: "Sie wird mir sehr fehlen." Sie wird uns allen, die wir mit ihr in die Geheimnisse der Astronomie eindringen durften, sehr fehlen.  

Werner W. Weiss für das Institut für Astrophysik